Sauber tiefergelegt

Dieser Text erschien vor wenigen Wochen in der Ausgabe #19 des Zeitspiel Magazins. Er wird hier veröffentlicht, verbunden mit der unbedingten Empfehlung sich das ganze Heft anzuschaffen.

Astreine Quizfrage zu Beginn: Nenne einen Fußballklub aus dem Stadtgebiet Stuttgart, der aktuell den sechs höchsten Ligen Deutschlands spielt. Kickers und VfB zählen nicht, sonst wär’s zu einfach. Na, was gibt’s außer den beiden?

Auf die Lösung dieser Frage wartet man auch an Neckar und Nesenbach. Vergebens. Dabei ist das größte Dorf des Bundeslandes gar nicht so klein, wie es die Zentrumsschwaben selbst machen, wenn sie ihr „le“ hinter die Stadt setzen. Im sechstgrößten Städtle Deutschlands benötigt man mit dem Fahrrad in alle Himmelsrichtungen stattliche 40 Minuten, bis man von der Stadtmitte aus die nächste Stadtgrenze erreicht. Was natürlich daran liegt, dass man erstmal streng bergauf strampelt, wenn aus dem engen Talkessel raus will. Egal wohin man fährt, man kommt dabei an unzähligen Fußballplätzen vorbei. Aber außer dem VfB und den Kickers (letztere mit Abstrichen) findet sich nichts, was aus sportlicher Sicht erwähnenswert wäre. An die ehemaligen Erzfeinde, also an den Stuttgarter SC und die Sportfreunde, erinnert sich kaum noch jemand. Der FV Zuffenhausen existiert nicht mehr.

In Worten: Achtzehnhundertfünfundsechzig.

Die aktuelle Krise fängt beim Platzhirsch an: Der VfB tut sich schwer, oben zu bleiben. Im Moment nimmt er einen neuen Anlauf. Ausgang ungewiss. Die Kickers findet man in Liga 5. Amateurfußball mit der ehrlichen Ambition durchzustarten ist fast gänzlich ausgestorben. Was ist los in der Stadt, in der astreiner Fußball seit 1865 gespielt wird? Ist sie noch ganz sauber? Tatsächlich war die glanzvolle Metropole Stuttgart von Anbeginn vorne dabei. Präziser gesagt: Es geschah Bad Cannstatt, in diesem wunderschönen Kurort, der im 19. Jahrhundert extrem angesagt war. Dort findet sich der vielleicht früheste Nachweis unserer geliebten Sportart in ganz Deutschland. Fußball war er noch nicht präzise definiert. Die Regeln wurden vor jedem Kick ausgekaspert. Nach eigenen Angaben hat William Cail „im Jahre 1865 als Schüler der Kloseschen Anstalt auf dem Wasen Rugby-Fußball gespielt“. Cail wird später Präsident des englischen Rugby-Verbandes. So zitiert ihn Philipp Heineken, Mitbegründer eines Vorgängerklubs des VfB, später in seinen Aufzeichnungen. Die Engländer bringen den Ballsport per Direktfracht an den Neckar. Die rebellischen schwäbischen Burschen, des Turnens müde, schauen sich die Kickerei ab. Als sich die Vereine im engen Innenstadtkessel formieren, bekommen sie allerdings ein sauberes Platzproblem. Der enge Stadtkessel ist bereits restlos verbaut. Raus nach Cannstatt wollen die Innenstädter schon damals nicht. Dann gelingt es den Kickers dank ihrer guten Verbindungen einen Teil des Exerzierplatzes auf der Waldau zu pachten. Dort ist der geborene Innenstadtklub seit 1905 heimisch. Dann eben Degerloch.

Der Platzhirsch trickst am grünen Tisch

Die Blauen dominieren die Zwischenkriegszeit. Damals denkt man bei der Farbe Rot zuerst an die Jungs vom Gaskessel, den Stuttgarter SC. Erst mit Verzögerung wird der weiß-rote VfB zu einem Gegner, den man ernst nimmt. Auch die Grünen sind stark. Damit sind die Sportfreunde Stuttgart aus dem Arbeiterbezirk Heslach (sprich: Häslach) gemeint. Der gebürtige Heslacher Eugen Kipp, später bei den Kickers, erzielt beim historisch ersten Sieg einer deutschen Nationalmannschaft das entscheidende 1:0. Auch der FV Zuffenhausen stellt regelmäßig starke Mannschaften. Doch die stärkste Formation von allen aus der nördlichen Vorstadt wächst zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt heran. Kurz vor dem zweiten Weltkrieg hat der FVZ eine A-Jugend, die den VfB und die Kickers fast zweistellig vom Platz fegt. Etwa die Hälfte der Mannschaft fällt im Krieg.

Nach dem Krieg wechselt der Zuffenhausener Stürmerstar Robert Schlienz zum VfB. Der fußballerische Konzentrationsprozess beginnt. VfB-Präsident Fritz Walter setzt bei Gründung der Oberliga Süd durch, dass aus jeder großen Stadt genau zwei Vereine mitspielen dürfen, für Stuttgart sind das der VfB und die Kickers. Der Stuttgarter SC und die Sportfreunde schauen in die Röhre. Von diesem Lobbyistentrick erholen sie sich nie wieder. 1950 wird der VfB zum ersten Mal Deutscher Meister. In der selben Saison steigen die Kickers aus der Oberliga ab. 1992 wiederholt sich das in der Bundesliga: Meister VfB. Absteiger Kickers.

„Trotz aller Rivalität muss man sagen: Damals haben die Vereine noch miteinander gesprochen,“ erinnert sich Harald Müller, der für den Württembergischen Fußballverband (wfv) lange den Bezirk Stuttgart geleitet hatte. „Das gilt für die den VfB und Kickers. Die Präsidenten Mayer-Vorfelder und Dünnwald-Metzler schlotzten viele Viertele gemeinsam. Und bei SSC tauchten früher die Spieler auf, die es beim VfB nicht geschafft hatten. Diesen Austausch gibt es längst nicht mehr.“

Philipp Maisel von der Online-Redaktion der Stuttgarter Zeitung/Stuttgarter Nachrichten beobachtet sie langem die Talfahrt des innerstädtischen Fußballs. Als Kenner der Amateurszene bestätigt er: „Wenn ich mir die Bezirksliga anschaue, ist das sportliche Niveau in den Bezirken außerhalb Stuttgarts einfach höher. Maisel war viele Jahre für das Amateurfußballportal FuPa in den Bezirken in und um Stuttgart unterwegs.

Bunter als dem Fußball lieb sein kann

Maisels Eindruck wird von Fakten untermauert. Bei Corona-Abbruch spielen die besten Stuttgarter Vereine (außerhalb VfB und Kickers) in der Landesliga Württemberg Staffel 2. Dort kämpften TSV Weilimdorf und SC Stammheim gegen den Abstieg. Tief unten in Liga 7! Angesprochen auf die Gründe weiß Philipp Maisel gar nicht, wo er anfangen soll: „Erstens ist es ein strukturelles Thema. Das Angebot für Kinder und Jugendliche ist mittlerweile so groß, dass der Fußball keine Hauptrolle mehr spielt. Überspitzt formuliert: Sören und Laura gehen halt zum Bouldern und zum Joga, aber nicht zum Kicken.“

Das Phänomen ist offenbar innerstädtisch. Die Vereine aus der Region haben den Stadtklubs längst den Rang abgelaufen. Die Verbandsliga Württemberg ist voller Klubs aus dem sogenannten Speckgürtel um Stuttgart herum: SKV Rutesheim, SV Fellbach, VfB Neckarrems, TSV Heimerdingen und Calcio Leinfelden-Echterdingen sind nur einen Steinwurf hinter der Stadtgrenze zu Hause. wfv-Mann Müller ist froh, dass wenigsten Calcio Leinfelden-Echterdingen sportlich zum Kreis Stuttgart zählt. FSV Bissingen 08 und SGV Freiberg (am Neckar) spielen bereits mit den Stuttgarter Kickers auf Augenhöhe in der Verbandsliga Württemberg. Harald Müller vermutet, dass sich die Vereine in der Region bei der Sponsorenbindung leichter tun. Maisel bekräftigt: „Auf dem Land fällt es leichter die Unternehmen abzugrasen. Die Identifikation mit dem Standort ist draußen in Rutesheim, Bissingen oder Freiberg einfach höher.“

Dreimal schwarzer Kater

Der Dreckstag des Stuttgart Fußballs schmerzt noch fünf Jahre später. Es war der 15. Mai 2016. An diesem schwarzen Samstag fegt es gleich drei Stuttgarter Mannschaften aus ihrer Liga. Der VfB purzelt aus der Bundesliga, VfB II und die Kickers aus der dritten. In der Folge wählen die leichtgläubigen VfB-Mitglieder einen angeblichen Macher zum Präsidenten. Wolfgang Dietrich war schon als Pressesprecher an der Tieferlegung des Bahnhofs beteiligt. Er hält den VfB unten, indem er die traditionelle VfB-Geldverbrennung weiter intensiviert. Inzwischen ist das Möchtegern-Macherle Geschichte. Er wurde vom geballten schwäbischen Gerechtigkeitsinn bei Hauptversammlung förmlich aus dem Stadion gebrüllt. Trotzdem bleiben Bahnhof und VfB weiterhin veritable Großbaustellen.

Auch der Mittelbau des Stuttgarter Fußballs erleidet an diesem sonnigen Maisamstag des Jahres 2016 einen kapitalen Totalschaden. Der Unfall passiert in der 94. Spielminute. Da kassiert die bereits abgestiegene zweite Mannschaft des VfB in Wiesbaden ihr letztes, fatales Tor. Dieser Treffer rettet Wehen-Wiesbaden und die Kickers stiegen ab. Identische Punktzahl, selbe Tordifferenz. Nur hatte Wehen mehr Tore geschossen. Extrem bitter. Der wfv-Bezirksvorsitzende Harald Müller sagt: „Dieses Debakel wirkt sich bis heute aus.“ Philipp Maisel unterstreicht: „Seither klafft im Stuttgarter Fußball eine Lücke. Die Verbindung nach ganz oben fehlt, viele Vorbilder ebenso.“ Die Talente der Stadt setzen sich nur in ganz seltenen Fällen beim VfB durch. Oder sie ziehen fort, wie meistens.

Verbindung, Solidarität, Kommunikation,… Philipp Maisel kann die Liste der Gründe noch verlängern. Auch eine heiße Rivalität sei selten geworden im Stadtkessel. Insider Maisel erklärt: „Die Stadtteilrivalitäten, die es mal gab, haben sich totgelaufen. Die Bindung an den Klub hat sich verändert.“ In diesem Punkt nimmt er auch die Vereine in die Pflicht: „Der Amateurfußball hat an vielen Standorten den Fehler gemacht, nicht auf emotionale Bindung zu setzen, sondern auf Geld. Und wenn dann der einzige Mäzen verschwindet oder ein anderer Verein mehr bietet, ziehen die Spieler eben weiter.“

Maracana und Stuttgarts Fußballgrüne

Doch selbst die kritischen Beobachter der Stuttgarter Szene sind sich einig, dass in den Bezirks- und Kreisklassen viele konstante Teams aus sauber geführten Vereinen antreten. In den Stadtteilen wie Uhlbach und Münster, bei der SpVgg Cannstatt, beim TSV Weilimdorf und bei zahlreichen anderen Klubs spielt man nicht für den Erfolg um jeden Preis. Dort geht es vor allem um Zusammenhalt, Gemeinsinn und Identifikation. Vielleicht spielt die sogar die Tallage eine Rolle: Genau dort, wo die Stuttgarter Topografie klar erkennbare Stadtteile geformt hat, sind die lokalen Vereine besonders stark. Das trifft zum Beispiel im Weindorf Uhlbach zu, wo Dorf und Sportplatz zwischen den Weinbergen so idyllisch liegen als wäre es ein schwäbisches Maracana.

Den Zusammenhang von Identifikation und Topografie bestätigen die Ausnahmen von der Regel. Denn auch die Heslacher Sportfreunde von 1894, also die Mannschaft, die Ende der 1940er Jahre den legendären 100-Tore-Sturm der Stuttgarter Kickers mit 3:0 vom Platz fegt, sind heute ein lebendiger Verein mit einer ausgezeichneten Jugendarbeit. An der Lage ihres Sportplatzes auf der Waldau kann es nicht liegen. Die Stuttgarter Fußballgrünen spielen seit einem Jahrhundert im Exil, rund drei Kilometer und 200 Höhenmeter von ihrer eigentlichen Heimat entfernt. Das fußballgrüne Urgestein Herrmann Müller ist jedoch vom Zustand der Sportfreunde begeistert: „Seit fast 100 Jahren spielen wir auf der Waldau neben den Kickers. Aber wir sind ein original Heslacher Verein mit Heslacher Spielern und Heslacher Sponsoren.“ Dabei betont Müller das Ä in Heslach mit besonderem Stolz.

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tl_files/propheten_dark/stories/20_8_Blog im August/Grossstadtfussball.jpgEmpfehlung für Zeitspiel Magazin (schließlich ist es kein Geheimnis, dass sich die prophetischen Bulletinschreiber auch im beim Magazin für Fußball-Zeitgeschichte engagieren)

Zeitspiel erscheint viermal im Jahr. In der letzten Aussage wurde schwerpunktmäßig der Großstadt-Fußball unter die Lupe genommen. Zeitspiel kann man hier bestellen:www.zeitspiel-magazin.de

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