Am Haus von Julius Weller

Die Farben sind nur leicht verblasst. Die Fassadenmalereien des Hardcore VfB-Fans Julius Weller sind noch gut erhalten. Eine Hommage.

Längst bevor Radfahren hip wurde, ist Julius Weller mit Vorliebe mit dem Rad die 50 Kilometer von Alfdorf ins Neckarstadion gefahren. Weller war schon Allesfahrer als es diesen Begriff noch gar nicht gab. Als ich neulich in seiner Heimat unterwegs war, sah ich nach, in welchem Zustand sich das kleine Häusle präsentiert, in dem über Jahrzehnte gewohnt hatte. Welch positive Überraschung. Das Fußballdenkmal der besonderen Sorte ist bestens erhalten. Man kann auf der Fassade noch genau erkennen, mit wie akribisch Weller seine VfB-Leidenschaft lebte. Den Bewohnern des ehemaligen Weller-Hauses kann man nur danken. Sie haben das Julius Erbe bewahrt - und das obwohl es sich bei der Kunst des Julius um kein klassisches Werk der Fassadenmalerei handelt. Ihm zu Ehren meine Hommage an Julius, entnommen aus "Heimspiele Baden-Württemberg"

Der perfekte Fan

Die Merchandisingeinnahmen schießen durch die Decke. 2014 machte die Erste Bundesliga fast 200 Millionen Umsatz mit Trikots, Wimpeln und Bettwäsche. Inzwischen gibt es Vereine mit über 1000 verschiedenen Artikeln im Sortiment –unterschiedliche Größen und Farbvarianten nicht mitgerechnet. Der durchschnittliche Bundesligaverein holt sich rund vier Prozent seiner gesamten Einnahmen über Merchandisingartikeln direkt von den Fans. Die Shops sind reine Gemischtwarenläden geworden. Da gibt es nichts, was es nicht gibt. Wie praktisch, wenn ein Gestaltungsprinzip ausreicht, für ein Damen-T-Shirt genauso wie für eine Herrenunterhose, einen Projektionswecker oder einen Fußabstreifer. Ein SC-Freiburg-Ketchup? Bitteschön! Ein VfB-Schnuller? Gerne! Ein Stabfeuerzeug mit KSC-Wappen? Unbedingt! Ein FC-Bayern-Waschbeckenstöpsel? Aber selbstverständlich! Die Läden, scheinbar vom Orwell’schen Big Brother eingerichtet, denken auch an die individuellen Wünsche ihrer Kunden. Vor Weihnachten läuft der Trikotplotter ohne Pause. Franzi, Hotte und Mucki erhalten ihren eigenen Namen auf dem Vereinstrikot. Natürlich alles original. Normale Fans eben. Nichts Außergewöhnliches. So betrachtet, war Julius Weller ein ganz besonderes Exemplar. Ein Unikum. Ein wirkliches Original. Ein letztes Überbleibsel aus einer Zeit ohne Merchandising.

Julius Weller war ein Hundertprozentiger. Weller hatte nur weniges, was ihm wirklich etwas bedeutete: Allen voran war es der VfB, dann der VfB, aber auch der VfB. Er war Fan mit Haut und Haaren – und wer ihn deshalb als schrullig bezeichnete, lag gewiss nicht ganz daneben. Als VfB-Fan konnte man ihn an Spieltagen leicht erkennen, an seinem Weller-VfB-Trikot Marke Eigenbau, das er an jedem Spieltag, zu jeder Auswärtsreise trug. Ohne Ausnahme. Es stammte aus der Zeit, in der man noch nicht wusste, was Merchandising überhaupt bedeuten soll. Der ganze moderne Kokolores der Leute um ihn rum – der beschäftige Weller überhaupt nicht. Er war ein stolzer VfB-Fan auf seine Weise, ein echter nach Hausmacher Art. Auf dem roten Brustring konnte man die aktuelle Zahl seiner besuchten VfB-Spiele ablesen.»Besucher von 1723 VfB-Bundesligaspielen« stand dort groß aufgenäht. Am nächsten Spieltag hatte er die Stoffziffer 3 durch die Stoffziffer 4 ausgetauscht. Alles zu 100 Prozent selbstgemacht, versteht sich. Dem Weller-Trikot sah man durchaus an, dass es etwas in die Jahre gekommen war. Dem Träger übrigens auch. Aber darum scherte sich niemand – und Julius Weller schon gar nicht. Kein einziges Mal in seinem Leben soll er auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht haben, ein anderes Trikot anzuziehen.

Fußball ist so herrlich einfach. Und Julius Weller war einer von denen, die es nicht komplizierter haben wollten. Psychotherapeuten würden möglicherweise von Zählzwang oder dem Verdrängen anderer Themen schwadronieren. Aber sie würden damit das Thema verfehlen. Weil sie es schon wieder zu kompliziert machten. Julius Weller hat das einfache Angebot angenommen, das der Fußball bietet. Totale Identifikation, gesamter Lebensinhalt – und damit vollkommene Ordnung des eigenen Daseins. Warum auch nicht: Weller erhielt eine Struktur in Weiß und Rot. Und diese bestand seit 1963, denn Weller ist ein Kind der Liga. Mit Einführung der Bundesliga startete er seine Fankarriere. Das erste Heimspiel gegen den Hertha BSC war sein erstes Stadionerlebnis. Die Serie seiner ununterbrochen besuchten Heimspiele begann 1966 bei einem Spiel gegen den Hamburger SV. Wenn es das Wetter zuließ, strampelte er die 50 Kilometer mit dem Fahrrad von Alfdorf ins Neckarstadion. In der Folge hat Weller in seinem ganzen Leben kein Heimspiel mehr verpasst. Es gab auch nichts und niemanden, der ihn daran hindern konnte. Er war Junggeselle geblieben, keinesfalls menschenscheu, aber gewiss auf seine Art ein Einzelgänger. Er arbeitete im Lager eines Versandhändlers – also nichts, was freie Wochenenden gefährden konnte. Und wenn er seinen Jahresurlaub richtig einteilte, reichte es für die Europacup-Spielzeiten. Auch zwischen den Spieltagen hatte Weller alle Hände voll zu tun, mit seiner Liebe zum VfB und seiner Angewohnheit, die Dinge für sich festzuhalten. Die Spielberichte der Zeitungen legte er in Ordnern ab oder klebte sie sich an die Wand. Auch so kann eine Tapete entstehen. So wurde das Haus ein Museum. In den Ordnern sammelte er Mannschaftsaufstellungen, Torschützen, Auswechslungen und Zuschauerzahlen. Alles, was man zählen konnte, wurde von Weller mitgezählt. Dabei musste seine Buchführung stets schwäbisch sauber sein, also jederzeit auf aktuellem Stand.

Auf die Frage, was ihn von einem Besuch eines VfB-Spieles abhalten könne, soll Weller geantwortet haben: »Höchstens meine Beerdigung.« 2013 war es dann soweit. Weller starb nach über 1800 Pflichtspielen. Was er aus seinem Leben gemacht hat, kann man besichtigen. Die Fassade seines Hauses liegt in Alfdorf an einer Hauptstraße. Hier dokumentierte der ansonsten zurückhaltende Mann seine Leidenschaft – natürlich mit der ihm typischen, akribischen Art und Weise. Jede Station, die er mit dem VfB Stuttgart bereiste, ist sauber verzeichnet: in der zweiten Liga in Völklingen, Bayreuth und Baunatal, in der Bundesliga in Oberhausen, Wuppertal und Cottbus, im Europapokal in Reykjavik, Larnaca und Pamplona. Wer den Fußball liebt, bleibt nicht ohne Rührung beim Abschreiten seiner Fanhistorie. Seine Schablonenschrift kann man gut erkennen – mit Lineal und Bleistift vorgezeichnet, dann rot ausgemalt. Als perfekter Fan fieberte Weller den Spielen besonders entgegen, bei denen seine Zählung eine runde Zahl ausspuckte. Immer wenn er drei Ziffern auf seinem Trikot auswechseln musste, war es eine besondere Eintragung auf der Frontseite der Fassade wert. »1800. Spiel: FC Hamburg – Stuttgart 1:2«. Kleine Fehler verzeiht man ihm gerne.

Manche hartgesottene Fans haben bereits die Frage diskutiert, unter welchen Bedingungen es möglicherweise gestattet sein könnte, ein Spiel seiner Mannschaft auszulassen. Seinen Klassiker über die Fankultur überschrieb Christoph Biermann mit der Feststellung »Wenn Du am Spieltag beerdigt wirst, kann ich leider nicht kommen.« Der Satz war an seine Mutter gerichtet. Die vielleicht eindeutigste Antwort auf die Frage, wann man ein Spiel verpassen darf, stammt jedoch von Julius Weller.

Niemals.

Den Text habe ich aus dem Buch "Heimspiele Baden-Württemberg" von 2015 entnommen. Ewig schade, dass ich das Buch nicht einige Jahre zuvor geschrieben hatte. So konnte ich Julius Weller selbst nicht mehr befragen.

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