Angsthasen am Wasen

Zwei Extraspiele entscheiden nun über die Bundesligazukunft beim HSV und VfB. Alles über Großmäuler, weiße Hasen, Selbstbetrug und Bescheidenheit.


Tim Laszlo Walter, der derzeitige Trainer des Hamburger Sportvereins, gehört zu jenen Menschen, denen manche gerne nachsagen, sie trügen ihr Herz auf der Zunge. Um keinen Spruch verlegen und gerne mal einen raushauen, bevor das Gehirn die abschließende Qualitätskontrolle abgeschlossen hat. Für jemanden, der wie Walter aus dem Raum Karlsruhe kommt, scheint das nichts Ungewöhnliches zu sein. Auch Mehmet Tobias Scholl etwa und sein alter Bayern-Kumpel Oliver Rolf Kahn, beide ebenfalls Karlsruher, tragen gern ihr Herz mal auf der Zunge. Wenn man sich das bildlich vorstellt, so ein Herz auf der Zunge, versteht man leicht, warum es synonym auch „Großmaul“ oder „große Fresse“ genannt wird. Und wie der Scholl schon sehr häufig und der Kahn aktuell gerade mal wieder, droht nun auch Tim Walter abermals ein Opfer seiner häufig viel zu großen Sprüche zu werden. 

Über die ganze Zweitligasaison 2022/23 hinweg hatte er keine Möglichkeit ausgelassen, lautstark zu betonen, dass der HSV dieses Mal auf jeden Fall in die Erste Liga aufsteige wo er, also er sowie der HSV, aufgrund seiner unbestreitbaren Erstklassigkeit auch hingehöre. Selbst nachdem es auch in diesem Jahr nur zum dritten Platz gereicht hatte, sieht er den HSV obenauf. „Wir müssen leider in die Relegation und haben jetzt noch zwei Spiele vor der Brust, auf die wir uns freuen und in denen wir dann eben über diesen kleinen Umweg unser Ziel erreichen wollen. Ich glaube daran, denn meine Spieler haben eine große Bereitschaft und sind sehr charakterstark.“ Der „kleine Umweg“ berechtigt den HSV, sich in zwei Spielen gegen den VfB Stuttgart, doch noch den Aufstieg in die Beletage der Bundesliga zu erkämpfen. Im vergangenen Spiel gegen SV Sandhausen, das der HSV gegen den bereits feststehenden Absteiger nur mäßig souverän gewann, hatten die HSV-Spieler bereits ein harte Probe ihrer Charakterstärke zu überstehen.

Sie glaubten, die Niederlage der Konkurrenz aus Heidenheim sei nach dem Spielende in Sandhausen bereits besiegelt und sie feierten bereits gemeinsam mit ihren platzstürmenden Fans den direkten Aufstieg in die Erste Liga. Als dann das zuvor unmöglich Erscheinende doch noch passierte, verlor selbst der ansonsten obercoole Torhüter Daniel Heuer Fernandes kurzzeitig seine Fassung. Gerade hatten ihn die Fans noch hochleben lassen und ein paar Minuten später ist Alles wieder nichtig. Viele Endorphine umsonst verpulvert und schon dominiert wieder die blanke Angst. Da muss man wirklich ganz stark sein. Beim HSV ist das mit dem Aufstieg nach so vielen erfolglosen Versuchen ein bisschen wie beim Hase-und-Igel-Lauf. Der HSV-Hase wähnte sich auch dieses Mal, wie bereits öfter, ganz sicher, ganz vorne im Ziel und plötzlich war es dann doch wieder nichts. Was kann der HSV daraus lernen? Ganz banal. Ein Spiel ist tatsächlich erst dann vorbei, wenn der Schiri es abpfeift und nicht schon dann, wenn es sich so anfühlt. 

Es lohnt sich auch sonst im Leben, zwischendurch immer mal wieder abzuchecken, ob die gefühlte Realität noch deckungsgleich mit der tatsächlichen Realität ist. Das mussten nun auch die Entwickler der kommerziellen, japanischen Mondsonde „Hakuto-R“ (zu deutsch: Weißer Hase-R) lernen, die im April beim Landeanflug auf den Mond plötzlich verschollen war. Nach der Auswertung aller Daten kamen sie letzte Woche zu dem Schluss, dass ein Software-Fehler dem „Weißen Hasen“ vorgegaukelt habe, er befinde sich bereits unmittelbar über der Mondoberfläche. Daraufhin leitete er den Landevorgang ein, bei dem er mit sehr geringer Geschwindigkeit zu Boden sinkt. Dummerweise befand er sich zu dem Zeitpunkt tatsächlich noch in 15 Kilometern Höhe über dem Mond. Als dem Weißen Hasen bei diesem in der Höhe viel zu lange dauernden Manöver schließlich der Sprit ausging, war es um ihn geschehen. Armer weißer Hase. Sein gestörte Selbstwahrnehmung führte zum freien Fall in sein Verderben, der auch bei den auf dem Mond herrschenden Anziehungskräften fatal ist.  

Apropos freier Fall ins Verderben. Denn nun müssen die Angsthasen vom HSV am Donnerstag bei den brustberingten weißen Hasen vom Wasen in Cannstatt antreten, denen man zurzeit durchaus auch eine gewisse Angsthasigkeit attestieren kann.  Es geht um Alles oder Nichts. Und das mit der Selbstwahrnehmung ist auch in Cannstatt ein Problem. Bei den Vereinsbossen etwa, bei den Spielern nicht minder und bei den Fans sowieso. Ähnlich wie beim HSV, sind sich alle unisono sicher, dass sie zum Einen auf jeden Fall erstklassig sind und daher dieses Spiel als eine reine Zumutung zu empfinden sei, und zum Anderen auch weit unter ihrer Würde. So wie der HSV in der Zweiten trotz überschaubarer Leistungen in der Vorsaison den direkten Aufstieg als minimales Ziel ausgegeben hatte, proklamierten die „Lampen“ in der Ersten den sicheren Klassenerhalt als das absolute Minimum für eine Mannschaft, die im letzten Jahr bereits nur um Haaresbreite dem Abstieg entronnen war. Bei einem wiederholt verpassten Aufstieg hüben und bei einem wiederholten Abstieg drüben drohe aus finanziellen Gründen zudem, wie dem "Weißen Hasen", der freie Fall ins endgültige Verderben. 

Beim HSV sowie auch beim VfB scheint man die Qualität und die Leistungsfähigkeit der eigenen Spieler etwas verzerrt wahrzunehmen. Große Sprüche und Großspurigkeit im Denken und Handeln inklusive. Beim HSV, sowie beim VfB gibt es für die vielen Jahre sportlicher Erfolglosigkeit an der Schwelle zwischen erster und zweiter Liga seit Jahren nur eine einzige Ursache. Sie bekommen es einfach nicht hin, mit den wenigen zur Verfügung stehenden Ressourcen eine Mannschaft auf den Platz zu stellen, die tatsächlich wettbewerbsfähig ist. Gemessen an der Tatsache, dass Vereinen wie Union Berlin und dem SC Freiburg oder Augsburg und Mainz dieses regelmäßig und auch nach Rückschlägen immer wieder aufs Neue gelingt, scheint das doch sehr hausgemacht zu sein. Vielleicht liegt es tatsächlich an der verzerrten Selbstwahrnehmung, die bei beiden Vereinen schon seit Jahren eher eine Art Selbsttäuschung zu sein scheint. Die gleichen Probleme zeigen sich bei Hertha BSC und bei Schalke 04. Die hohen Ansprüche der Vereinsbosse und der Fans überlagern das mit den zur Verfügung stehenden Mitteln in der Realität tatsächlich Erreichbare. 

Solch eine Selbsttäuschung ist die Unterdrückung von Wahrnehmungen, die der eigenen Befindlichkeit oder den eigenen Wünschen und den Motiven des eigenen Handelns entgegenstehen. Vereinfacht gesagt: Man bescheißt sich unbewusst selbst, damit es einem besser geht und man das eigene Handeln nicht hinterfragen muss. Die sogenannten „kleinen“ Vereine haben das nicht nötig, weil in ihrem Umfeld niemand etwas tatsächlich Unrealistisches von ihnen erwartet. Das nennt man auch Bescheidenheit. Dieses Wort scheint manchen Traditionsvereinen irgendwie abhanden gekommen zu sein. Egal wie die Angsthasenspiele zwischen dem HSV und dem VfB nun ausgehen, den befürchteten Niedergang im freien Fall muss in Liga Zwei keiner fürchten, zumindest solange die eigenen Ansprüche stets der Realität standhalten.
 

Verwandte Artikel