Das Heft in die Hand genommen: Zeitspiel #18

In Corona-Tagen sind die meisten Rückblenden pure Pausenfüller. Diese nicht. Das Thema "1920" war lange als Heftschwerpunkt geplant. Eine Leseempfehlung.

Established since 1920. Der Fußballboom wird in diesen Tagen 100 Jahre alt. Es begann nach dem ersten Weltkrieg. Damals hatten sich die Leute ihre Sportart erstmals zurechtgelegt. Jahrzehnte später haben sie sich den Fußball aus lauter Begeisterung schön getrunken und schließlich, nicht selten im voll berauschten Zustand, größer aufgeblasen als es allen gut tat. Heute zweifeln viele daran, ob wir das Spiel noch unter Kontrolle haben. Vielleicht ist es ja andersrum: Das Spiel hat uns gefangen.

Dabei herrscht seit Fangedenken Einigkeit darüber, dass es nichts Unwichtigeres gibt als Fußball. Aber inzwischen schwanken auch die nüchternen Fans. Sie stellen an sich selbst fest, dass es überraschend schmerzhaft ist, wenn die schönste Nebensache abhanden kommt. Es ist ein Loch in der Welt und es ist rund. Übrig bleiben die Hauptsachen. So anstrengend kann es sein, wenn man sich auf aufs Wesentliche konzentrieren muss.

Im fußballleeren Raum steht die Sinnfrage: Was fehlt uns wirklich? Der Fußball selbst ist es nicht. Was uns eventuell abgeht, ist das Ritual des Wochenendes, die Struktur des Hinfieberns auf den Spieltag. Die Treffen mit den Freundinnen und Freunden fehlen sowieso. Wo können wir uns ablenken? Worüber so herrlich aufregen, ohne gleich aus der Rolle zu fallen? "Is' zwar scheiße gerade, aber wenigstens hat Borussia gewonnen." Diese Sätze funktionieren nicht mehr. Übrig bleibt...

Eine leise Verzweiflung

Weil die Liga fehlt, wechseln die meisten Bundestrainerinnen und Bundestrainer ins Fach der Virologie. Das muss schief gehen. Die Wissenschaft ist störrisch. Sie entzieht sich gründlich jeder fußballtypischen Besserwissung. Die Fußballexperten schauen gebannt auf Verdopplungszahlen, Mortalitätsraten, auf die Wirtschaft und unser aller Wohlstand. Aber diese Daten funktionieren nicht wie Bundesligatabellen. Je länger man drauf schaut, desto weniger weiß man. Nein, auch in der Information liegt kein Trost. Wir müssen es hinnehmen: Unser Leben ist gerade so wacklig wie die Abwehr von Mainz 05. Ein schräger Vergleich, zugegeben. So ist sie halt, diese heimtückische Sehnsucht nach dem Unwichtigen. Schon am Ende dieses Absatzes taucht der Fußball wieder auf.

Wie konnte es eigentlich dazu kommen?

Allein die Tatsache, dass sich auf diese Frage eine Antwort findet, erscheint tröstlich in diesen Tagen. Verzetteln wir uns also nicht mit viraler Besserwisserei, sondern gehen zurück auf Los. 1920 war das Datum, das den Fußball veränderte. Von einem Jahr auf das nächste war Deutschland eine Fußballnation. Wie das so plötzlich von statten gehen konnte, davon erzählt das Magazin Zeitspiel in seiner 18. Ausgabe. 100 Jahre Fußballboom, 100 Seiten Zeitspiel oder 1920 – als der Fußball Volksport wurde.

Eine gute Hälfte des Magazins ist der kickenden Initialzündung gewidmet. "Als Deutschland am 1. August 1914 in den Ersten Weltkrieg eintritt, zählt der DFB 189.294 Mitglieder", schreibt Herausgeber Hardy Grüne und setzt hinzu, dass Deutschland damals auf 66 Millionen Einwohner kam. Sechs Jahre später "sind es 470.000 Mitglieder bei nur noch knapp 62 Millionen Einwohnern. Im Jahr 1921 kratzt der DFB bereits an der 800.000-Marke." Kaum zu glauben: Unsere geliebte Sportart galt damals als sportliche Revolution. Wer am Sonntag zum Fußball ging, begriff sich als Teil einer Avantgarde, wenigstens ein bisschen. Davon zu lesen, tut heute noch gut.

Man muss also kein Historiker sein, um diese Ausgabe spannend zu finden. Wer an den kleinen Geschichten in der großen Geschichte interessiert ist, wird seine helle Freude haben an der 1920er-Ausgabe des Zeitspiel Magazins. Wenn schon Rückblick, dann bitte nicht zum vierundzwanzigsten Mal in den letzten zehn Jahren Dortmund - Bayern in voller Länge (und das mit vorhersehbarem Ausgang). 1920 lautete das Endspiel um die deutsche Meisterschaft SpVgg Fürth gegen 1.FC Nürnberg.

Aus den üblichen Transparenzgründen darf ich natürlich nicht verschweigen, dass der Verfasser dieser lobhudelnden Leseempfehlung selbst am Heft mitgewirkt hat, nicht zuletzt um den Württembergischen Anteil zu sichern. Mit dem Stuttgarter Roaring-Twenties-Experten Dr. Jörg Schweigard durfte ich mich über den gesellschaftlichen Hintergrund unterhalten vor dem die große Fußballrevolution stattfand. Man möge mir verzeihen, wenn ich über den Heftkauf hinaus eine pauschale Abo-Empfehlung ausspreche. Zeitspiel – so wichtig in diesen Tagen.

Die hohe Kunst mit der Uhr zu spielen, ist allerdings mehr als eine veritable Ablenkung in der ungewissen Coronapause. Tatsächlich taugt das Heft als Orientierung für den Blick in die Zukunft. Entgegen vereinzelnden DFL-Verlautbarungen ist die Sportart keinesfalls in Gefahr. Kein bißchen. Der Blick auf 1920 macht deutlich: Wenn die Zeit fürs Unwichtige anbricht, wird der Ball wieder rollen - auch in unseren Köpfen. Dann werden die Löcher schnell gestopft. Die in unseren Köpfen und diejenigen in der Abwehr von Mainz 05. Was dieser Tage in Gefahr gerät sind lediglich die Drahtzieher, die vom Sport mit Zins und Dividende profitieren. Um die Meisten müssen wir keine Sorgen machen. Gastwirtinnen und Gastwirte ausdrücklich ausgenommen.

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Zeitspiel #18
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