Der Charme der Underdogs

Selbe Stadt, selbe Sportart, im selben Jahrzehnt gegründet – und trotzdem spielen Kickers und VfB in anderen Welten. Äpfel und Birnen stehen sich näher als Rot und Blau. Während Rot im Bundesligakeller herumkrebst, hat sich Blau dem modernen Kommerzfußball totalverweigert. Ohne Absicht allerdings. Inzwischen stehen die Leid geplagten Blauen sogar an der Spitze. Halt in der Oberliga Baden-Württemberg. Drei Ligen unterhalb der Roten. Trotzdem ist Blau gefühlt obenauf. Nach dem Aufstieg in die Regionalliga sowieso. Ketzerische Frage: Lieber mit Kerle bei den Halb-Amateuren als mit Legionären in der Bundesliga?

Autor Olaf Nägele ist einer derjenigen, die nach langer Pause die blaue Liebe wieder pflegen. „Alles ist kleiner, feiner, heimeliger“. Nägele genießt den Stehplatz im B-Block. „Bei den Kickers bin ich näher dran am Geschehen. Das erweckt die Illusion, den Spielverlauf durch Zuruf mitzubestimmen. Das ist zwar Quatsch, aber mir gefällt der Gedanke.“ Nägele war mal Mitglied des FC St. Pauli. Der Charme des Underdogs zieht. Auch wenn die Kickers kein Piratenverein sind. Auf der Haupttribüne thront der alte Stadtadel – oder das, was sich dafür hält. Tore werden im Sitzen gefeiert. Teils weils die Herkunft aus der Halbhöhenlage verlangt, teils weils Hüftgelenk rostet. 

Niemals hip: die Kickers.

Die Kickers entziehen sich modischen Floskeln. Never say hip. So ist Fußball – und das ist auch gut so. Wer mit dem Hype nach oben kommt, fährt ja im selben Aufzug auch wieder runter. Das wird den Blauen nicht passieren. Freundschaftlich geht es zu, fast familiär. Die blauen Nasen auf den Stehplätzen kennen sich. Sie erscheinen zeitig. Ein Bier beim Sportfreunde-Stand sollte schon sein. Christos führt den best-bekifftesten Bier-Ausschank des deutschen Fußballs. Dort wird sogar Schlange stehen zum Vergnügen. Auch die Wurst kann sich sehen lassen. Knackig, gut durch, vom Metzger nebenan. Man bestellt sie als „Blaue“. Sag niemals Rote bei den Blauen. Bitte auf Sprache achten. Ebenfalls angenehm: der Verzicht auf Party-Beschallung. Man kann es an Bierstand hören, wenn drüben die Erwin-Lehn-Hymne scheppert. Text Blacky Fuchsberger: „Heja, heja, Kickers vor!“ Das Kickerslied aus den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Aber keine Zeit für Sentimentalitäten. Bitte austrinken und rüber gehen.

„Die Kickers spielen echt ansehnlichen Fußball. Sie sind zu Recht erfolgreich“, findet Nägele. Auch Journalist Klaus Teichmann sieht das so: „Wir rennen mit einer tollen Mannschaft mit schnellem Offensivfußball alles in Grund und Boden. Das bleibt nicht unbeobachtet,“ stellt Teichmann fest. Er muss es wissen, er hat mehrere Kickers-Bücher verfasst. Tatsächlich halten die Blauen den Zuschauerrekord in Deutschland – wenn man Oberliga und darunter betrachtet. Bei Heimspielen ist die Waldau mit 4.000 Leute gut gefüllt. Der Traditionsstandort macht sogar bundesweit von sich reden. Die Spiele im wfv- und DFB-Pokal gegen Ulm, Fürth und Frankfurt erzeugen Aufmerksamkeit. Sie tun es bei einem breiten Publikum – und nicht nur bei Fußballhistorikern, die zur Vize-Meisterschaft aus dem Jahr 1908 recherchieren. 

In der Gegenwart gab es zum Aufstieg keine Alternative. Nur für Regionalligavereine gewährt der DFB seine Förderung fürs Nachwuchsleistungszentrum. Es geht um mehr als ein paar Cent. Weitere Sponsoren sind willkommen. Im Moment bestreitet eine Porsche-nahe Unternehmensberatung einen beachtlichen Anteils des Budgets. Übrigens genau die, nach der das rote Stadion neuerdings benannt ist. In der blauen Führung gibt es keinen, der sich einer breiteren Aufstellung verweigern würde. Leicht ist es nicht. Vielleicht die einzige Stelle, an der die Kickers mit dem großen Nachbarn konkurrieren. In der grundrenovierten Bundesliga-Arena am Neckar werden VIPs und Sponsoren bald im einzigartigen Tunnelclub verwöhnt – mit exklusiven Einblicken ins Spielertunnel. Im Moment wird gebaut. Ob die Idee Exklusivität ausstrahlt oder eher das Flair eines Raubtierkäfigs in der Wilhelma verströmt, lässt sich nicht abschließend feststellen. Den Blauen ist es gleich. Für Waschechte wie Teichmann hört die Stadt sowieso am Neckar auf. Der Fluß als Demarkationslinie – so viel Tradition muss sein.

Unterdessen ist man auf der Cannstatter Seite mit sich selbst beschäftigt. Querelen gehören zur Tradition. Leistungen unterhalb jeder Erwartung ebenfalls. Doch Verdrossenheit kommt nicht in die Tüte. Niemals! Andreas Zweigle vom Blog vertikalpass.de kennt diese Phasen nur zu gut: „Ich ließ mir meine Verbundenheit mit dem VfB nicht von zwei Abstiegen oder dem unterirdischen Präsidenten Dietrich nehmen. Von daher ist meine Liebe nicht erkaltet. Daran ändern weder ein starrköpfiger Trainer noch verantwortungslose Entscheidungsträger noch eine lustlose Mannschaft etwas.“ Zweigle stellt fest, dass die Fans leiden, aber weit weg davon sind, sich abzuwenden. Der Blogger betont: „Die Heimspiele sind ausverkauft, die Auswärtstickets in wenigen Minuten vergriffen, Trikots werden wie von Sinnen gekauft. Weiterhin wird auf auf allen Plattformen über den VfB diskutiert.“ Der Brustring verbindet auch in der Krise. So wars schon immer: Die besseren Trainer sitzen auf der Tribüne. In allen Phasen der langen VfB-Geschichte. 

Niemals out: der VfB

Die Treuen erscheinen trotzdem – oder gerade deshalb. Im Schnitt fast 50.000. Die Eventmaschine läuft. Ein Mallorca-Almhütten-Mix beschallt die Mercedesstraße. Oben am Carl-Benz-Center schenkt der automatische Bierjet Sechs auf einen Streich aus. Gezapft wie geschmiert. Alle Plätze überdacht – inklusive Stadionring. Preisgünstig ist der Aufenthalt im Alltagserholungsgebiet Neckarpark nicht mehr. Wer den Brustring tätowiert hat, bezahlt auch das. Furchtlos und treu – selbst bei überschaubarer Leistung. Die Wahrheit liegt auf dem Platz: Unter den großen Tieren der globalen Fußballindustrie gelten die Roten als Underdogs. Kommen unsägliche Personalentscheidungen hinzu, droht die zweite Liga. Wie gut, dass die Mannschaft ihre besten Auftritte immer dann liefert, wenn niemand damit rechnet. Aber der VfB hat andere Argumente entwickelt, um auf seine Farben stolz zu sein. Zum Beispiel das Aktionstrikot mit Regenbogen. Sportlich motiviert der deutliche Klassenerhalt in der Bundesliga. Deutlich im Relegationsspiel. Man nimmt, was man bekommt, um den Optimismus für die kommende Spielzeit hoch zu halten.

Auch Daniel Pfofe erscheint häufig im bunten Diversity-Trikot. Das Mitglied in mehreren Fanclubs betreibt seit kurzem den Podcast Brustringfrauen, der sich voll aufs frische VfB-Frauen-Team konzentriert. Pfofe erkennt dort Tugenden, die er im Männerfußball vermisst: „Man sieht ehrlichen Fußball, noch nicht korrumpiert durch das ganze Geld. Man sieht Sportlerinnen, die für den Verein brennen.“ Inzwischen engagiert sich Pfofe als Stadionsprecher. Wer auf kämpferische Underdogs steht, findet sie also auch auf der Cannstatter Seite des Neckars. Jung, dynamisch, weiblich. Im Gegensatz zu den Männern mit aufsteigender Tendenz.

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