Der schmale Grat

Der schmale Grat

Der VfB Stuttgart wechselte Atakan Karazor am Sonntag im Spiel gegen Leipzig in der 90. Minute ein. Kann man so machen, aber war da nicht noch was?

Wenn es ein Thema rund um den VfB Stuttgart gibt, das zurzeit wie eine verdammt heiße Kartoffel behandelt wird, dann die Personalie Atakan Karazor. Niemand traut sich ran. Grund genug, das Ganze in aller Seelenruhe mal etwas einzuordnen.

Konzentrieren wir uns zunächst mal auf die harten Tatsachen: Atakan Karazor gilt zurzeit in Spanien als Beschuldigter in einem laufenden Ermittlungsverfahren wegen einer Sexualstraftat und wurde gegen die Zahlung einer Kaution von 50.000 Euro aus der Untersuchungshaft entlassen. Die mutmaßliche Sexualstraftat an einer 18-Jährigen soll er vor neun Wochen, am 9. Juni, während seines Urlaubsaufenthaltes auf der Insel Ibiza begangen haben. Danach befand sich Karazor sechs Wochen lang in Untersuchungshaft, aus der er vor zweieinhalb Wochen am 21. Juli entlassen wurde. Am 3. August nahm er das Training beim VfB wieder auf und nur vier Tage später, am Sonntag stand er bereits wieder in einem Pflichtspiel auf dem Platz. Wenn auch nur für wenige Minuten.

Karazor feiere nach neun turbulenten Wochen nun bereits sein Comeback auf dem Platz, war hinterher zu lesen. Wo ist das Problem? Das ist das Problem. Der Verein hat sich in einer durch Sven Mislintat kundgegebenen Stellungnahme mit seiner Haltung gegenüber Karazor eindeutig positioniert: "Das ist ein Mensch, der noch nicht mal angeklagt ist. Fakt ist: Wenn es irgendwann zur Anklage käme, dann muss man sich das anschauen. Aber so lange das nicht so ist, ist das ganz klar unser Spieler, unser Junge."  Das ist das klare Statement eines VfB-Verantwortlichen, der sich schützend vor seine Spieler stellt, (so lange das so ist). Die schnelle Integration in die Mannschaft nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft und nun seine ersten Spielminuten sollten wohl das Statement vom Wort in die Tat umsetzen. Man möchte Karazor stützen und nicht fallen lassen, ihm nahezu das Gefühl geben, dass für ihn alles wie gewohnt weitergehen kann.

Das Ungute daran ist jedoch, dass dieses Statement des Vereins den 25-jährigen Spieler angesichts seiner Situation weder schützt noch ihm hilft. Das ist Wunschdenken und das bloße Ignorieren eines Problems schafft dieses nicht aus der Welt. Die Realität sieht anders aus. Der Verein sieht diesen Schutz, den Karazor zurzeit genießt, für jemanden, der „nur“ als Beschuldigter in einem Ermittlungsverfahren zur Aufklärung einer Sexualstraftat gilt, offensichtlich noch als adäquat an. Damit legt er die Fallhöhe Karazors im Falle einer Anklage bereits ziemlich hoch fest. Und vom Fall einer Verurteilung ganz zu schweigen. Was passiert denn dann? Wie will der Verein dann noch reagieren? Wird man ihn dann mit Schimpf und Schande vom Hof jagen, mit Verweis auf die Vereinsstatuten? Als Spieler und auch als Mensch? Ist er dann nicht mehr unser Junge, wenn er mit ein paar Jahren Knast noch größere Probleme hat?

Bei diesen Fragen wandelt der VfB auf einem sehr schmalen Grat. „Ganz klar unser Spieler und unser Junge!“ – das war eine emotional verständliche Reaktion Mislintats, der sich seinen Spielern gegenüber fast schon väterlich verantwortlich fühlt. Insbesondere der Vorstand und auch der Präsident hätten dazu jedoch ihr Verantwortungsgefühl für den Verein etwas nüchterner spüren und ein anderes Procedere einfordern müssen. Ganz ohne von der viel beschworenen Unschuldsvermutung abzurücken. Und das vor allem auch, um Karazor als Mensch wirklich zu schützen. Was glauben die denn, wie sich das für einen 25-Jährigen anfühlt, ständig mit einem riesigen Damoklesschwert über dem Kopf über den Platz zu laufen? Es wäre besser gewesen, ihn eben nicht so schnell wie möglich wieder in seine vermeintlich heile Fußballerwelt zu entlassen, sondern den Ausgang des Ermittlungsverfahrens abzuwarten und erst dann zu entscheiden, wie und in welcher Form man sich abschließend dazu verhält. Und was bei allen berechtigten Sorgen und väterlichen Schutzgefühlen oft vergessen wird, Väter haben auch Töchter!

Bei einem Ermittlungsverfahren wegen einer Sexualstraftat geht es doch immer auch um mutmaßlich geschädigte Menschen, die körperlich und seelisch verletzt wurden. In diesem Fall ist der Mensch eine noch recht junge, 18-jährige Frau. Allein der Respekt vor dem mutmaßlichen Opfer einer solchen Sexualstraftat hätte dieses Abwarten bereits gerechtfertigt. Und man hätte Karazor damit nicht „den Boden unter den Füßen weggezogen“ oder „sein Leben unnötig zerstört“, wie dazu oft zu hören ist und ihn schon gar nicht „vorverurteilt“, sondern sich sehr adäquat gegenüber einem Menschen verhalten, der sich mit dem Vorwurf einer solchen schweren Straftat konfrontiert sieht. Aber dazu ist es schon fast zu spät.

Die Vorverurteilung läuft übrigens bereits seit Wochen bei der Zeitung mit den großen Buchstaben andersrum ganz prima. Da wird das ganze Instrumentarium der Vergewaltigungsmythen fürs Victim Blaming bemüht, um das mutmaßliche Opfer Karazors als eigentliche Täterin ins Zwielicht zu rücken.

 

 

 

 

 

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