Falsch gejubelt

Die umstrittene Verwarnung gegen den VfB-Spieler Ahamada nach einem unzulässigen Torjubel offenbart das ganze Dilemma, in dem sich das deutsche Schiedsrichterwesen befindet.

Es war einfach nicht sein Tag. Naouirou Ahamada vom VfB Stuttgart wurde beim Spiel gegen die TSG Hoffenheim innerhalb von knapp fünf Minuten zweimal verwarnt und musste mit Gelb/Rot in der 78. Minute den Platz verlassen. Die erste Verwarnung kassierte er von Schiedsrichter Badstübner wegen „Meckerns“, die zweite nach dem Führungstor durch Wataru Endo wegen des „Erklimmens eines Zaunes und eines Bades in der Menge der dahinterstehenden VfB-Fans“. Dass es dort weder einen Zaun zu erklimmen gab, noch von einem Bad in der Menge die Rede sein konnte, das spielte keine Rolle. Der junge Mann konnte sich dummerweise zweimal nicht beherrschen, so war hinterher die Lesart in einigen Medien, und Schiedsrichter Badstübner habe da keinerlei Ermessensspielraum gehabt, wie es der Kicker formulierte. Spätestens seit der Gelb-Roten Karte gegen Szabolcs Huszti, wegen des Ausziehens seines Trikots + Jubel am Zaun, müsse doch jeder Spieler wissen, dass so etwas nicht gehe, schrieben andere.

Dass alle Spieler so etwas wissen müssten, ist natürlich vollkommener Quatsch. Als Deniz Aytekin im Jahr 2012 Huszti wegen seines Zaunjubels vom Felde verwies, war Ahamada gerade einmal 10 Jahre alt und rannte als Kind noch in einem Vorort von Marseille dem Ball hinterher. Was damals in Hannover am Stadionzaun passierte, das hat ihn wohl kaum interessiert. Auch Aytekin blieb damals, wie Badstübner heuer, angeblich keine andere Wahl. Es täte ihm weh und leid, hatte er damals zum Fall Huszti gesagt, aber er habe das als Exekutive durchziehen müssen. DFB-Schiedsrichter-Lehrwart Lutz Wagner stand ihm bei. Er habe "keinen Handlungsspielraum" gehabt und ihm seien "die Hände gebunden" gewesen. Es handele sich dabei um sogenannte Pflichtverwarnungen, bei denen es nicht auf das Ermessen des Schiedsrichters ankommt. Auch die Regelwerk-Experten von „Collinas Erben“, die dankenswerterweise Woche für Woche (unter den Fans) strittige Schiedsrichterentscheidungen kommentieren, ordneten Badstübners Platzverweis gegen Ahamada als eine sogenannte „Pflichtverwarnung“ ein. Als alternativlos sozusagen. Nichts zu machen. Aber möglicherweise hatte tatsächlich nicht Ahamada einen schlechten Tag erwischt, sondern der Schiedsrichter Badstübner.

Pflicht, Verwarnung und Exekutive im Sport: Das hört sich irgendwie verdammt Deutsch an. Dass es auf deutschen Fußballplätzen vor Allem gesittet und mit Ordnung zugeht, war auch den frühen Fußballpionieren des 19. Jahrhunderts hierzulande schon extrem wichtig. Zum Beispiel Herrn Professor Doktor Konrad Koch, der als derjenige gilt, der als erster den englischen Rüpelsport in Deutschland, genaugenommen in Braunschweig, gesellschaftsfähig gemacht hat. In einer Abhandlung zur Frage, ob ein Spiel wie Fußball überhaupt „deutsch“ sein könne, schrieb er:

„Es kann auch beim Fußball im Spielleben ein echt vaterländischer Sinn gedeihen und erstarken. Es fragt sich nun, ob dies Bestreben durch Einführung fremder Spiele nicht wesentlich beeinträchtig wird. Die Erfahrungen, die auf dem Braunschweiger Spielplatze und anderswo vielfach gemacht sind, lassen diese Frage verneinen. Aber auch die theoretische Erwägung wird uns dazu berechtigen. Natürlich wird vorausgesetzt, dass wir aus der Fremde nur Spielgerät und Spielregeln entnehmen, beziehungsweise nach fremdem Muster uns selbst herstellen, den sonstigen Betrieb der Spiele jedoch streng unserer deutschen Eigenart entsprechend, soweit nötig, umgestalten.“

Insbesondere die Rohheit des Spiels und zu viel Leidenschaftlichkeit, waren Koch ein Dorn im Auge:

„Freilich kann die Leidenschaftlichkeit beim Fußball leicht Ausschreitungen herbeiführen; das wird wohl auch auf deutschen Spielplätzen beachtet und von einer verständigen Spielleitung stets streng unterdrückt werden. Indes auch ohne eine solche Leitung wird hier doch als durch die gute Sitte allein ausgeschlossen angesehen werden dürfen, dass, wie es jenseits des Ozeans fast an der Tagesordnung zu sein scheint, ein Spieler, um den auf die Erde gefallenen Gegner ganz kampfunfähig zu machen, ihm absichtlich mit dem Fuße einen Tritt ins Gesicht versetzt.“ 

Konrad Koch gab dem deutschen Fußball 1875 auch die allerersten Regeln, genauer gesagt dem „Fußball ohne Aufnehmen“, bei dem das Berühren des Balles im Spiel nicht mehr erlaubt war. Von Pflichten war damals noch keine Rede, doch die Spielleitung, falls vorhanden, hatte sich in Braunschweig an diesem Regelwerk zu orientieren. Die Engländer und ihre Football Association waren bei der Ausarbeitung allgemeingültiger Regeln sehr innovationsfreudig. 1869 erfanden sie den Torabstoß, 1872 kamen die Eckbälle dazu und der Schiedsrichter bekam 1879 eine Pfeife. Mit der konnte er dann ab 1891 auch einen Elfmeter pfeifen. Doch die Grundlage des heutigen Fußballregelwerks legte erst die bereits 1907 gegründete FIFA. Und nach ihrem Beitritt 1913 zum International Football Association Board (IFAB) wacht dieses mit einem Kontrollgremium über das weltweit gültige Fußballregelwerk. Das wurde bis heute und vor allem in den letzten 30 Jahren häufig abgeändert. Alle nationalen Fußballverbände haben sich diesem einheitlichen Regelwerk unterworfen. Rein theoretisch dürfte sich daher die Regelauslegung durch die spielleitenden Schiedsrichter von Land zu Land kaum unterscheiden. Und doch ist das so und zwar ganz augenscheinlich.

Und genau diese Unterschiede lassen sich an dem bereits genannten deutschen Wort „Pflichtverwarnung“ sehr gut illustrieren. Die FIFA nennt in ihren englischsprachigen „Game rules“ im Falle von „Cautions“, also Verwarnungen, solche, die ausgesprochen werden „sollten“ (should) und solche, die den Regeln nach ausgesprochen werden „müssen“ (must), insofern sich ein/e Spieler/in entgegen der jeweils genannten Regel verhalten hat. Ob dem wirklich so ist, das muss der spielleitende Schiedsrichter auch in Zeiten des VAR immer noch selbst entscheiden. In der Handreichung zur Ausbildung deutscher Schiedsrichter wird dieses Wort „Muss“, im Falle einer solchen durch den Schiedsrichter zu treffenden Entscheidung, mit dem Begriff „Pflichtverwarnung“ uminterpretiert. Und das verbunden mit der Maßgabe, dass es bei diesen Vergehen kein Wenn und Aber geben darf, auch Ermessensspielraum genannt.

Das Wort „Pflicht“ oder das Wort „Muss“ wird im Deutschen, nicht nur in diesem Regelfall, meistens synonym zum Wort „Zwang“ verwendet. Etwas „muss“, „zwingend“ und „verpflichtend“ geschehen.  Wat mutt, dat mutt! In englischen Handreichungen für Schiedsrichter fehlen solche Interpretationen vollkommen. Da steht nirgendwo das Wort „duty“ oder Vergleichbares. Man überlässt den Schiedsrichtern vollkommen selbst die Entscheidung festzustellen, ob ein Regelverstoß vorlag oder nicht. Man kann Letzteres gern auch als „Ermessensspielraum“ bezeichnen.

Mit dieser Unterscheidung lässt sich erklären, warum Badstübner und Aytekin in den vorgenannten Verwarnungsfällen mit Ahamada und Huszti die Ausweglosigkeit ihrer Entscheidungen begründen. Bei der Bewertung von Schiedsrichterleistungen, die über das Wohl und Wehe einer Karriere entscheiden können, kann es schon eine Rolle spielen, ob nun so eine „Pflichtverwarnung“ interpretationswürdig ist, oder nicht. Indem man etwas zur Pflicht erhebt, ergibt jede Pflichtverletzung automatische einen zu sanktionierenden Pflichtverstoß, zulasten des Schiedsrichters. Er hat dann etwas falsch gemacht. Zumindest im korrekten Selbstverständnis der Deutschen. Schiedsrichter sind so bei der Bewertung verwarnungswürdiger Vergehen auf dem Fußballplatz zumindest voreingenommen.

Wer sich regelmäßig Fußballspiele in England und weiteren anderen Ländern anschaut, wird feststellen, dass die von der FIFA vorgegebenen Must-Cautions, im Deutschen zu Pflicht-Verwarnungen mutiert, fast überall eher als Empfehlung, denn als Handlungsanweisung verstanden werden. Was ja nur verständlich ist. Denn wenn die Schiedsrichter alle mit dem Wörtchen „Must“ versehene Regeln zur Verwarnung strikt umsetzen würden, stünde in den meisten Partien der Premier League bereits nach kurzer Zeit kaum noch jemand auf dem Platz. In Deutschland ist das bei Licht betrachtet auch nicht viel anders. Denn zu diesen Pflichtverwarnungen gehören auch solche Vergehen wie das „Kritisieren des Schiedsrichters“, Das Ball weg treten nach Pfiff“, „Das zu frühe Lösen aus einer Freistoßmauer“, Das Halten eines Spielers, um ihn daran zu hindern, in Ballbesitz zu gelangen“ und vieles mehr. Würden alle sogenannten Pflichtverwarnungen ausgesprochen, täte das dem Spiel und dem Fußball überhaupt nicht gut. Irgendeiner meckert immer und gehalten wird überall auf Teufel komm raus.

Auffällig ist, dass vor allem die Profi-Schiedsrichter in England zahlreiche Vergehen, die in Deutschland verwarnungspflichtig geahndet werden, vollkommen anders interpretieren. In England gilt ein Schiedsrichter als gut, der das Spiel mit Weitsicht, Neutralität und viel Nachsicht in die richtigen Bahnen lenkt. Diese Souveränität gibt es in Deutschland nicht. Zumindest wird sie ihnen nicht offiziell zugestanden. Schiedsrichter sind im United Kingdom anerkannte Autoritäten, die sich ihre Sporen nicht jedes Wochenende unter der peniblen Kontrolle eines Aufsehers neu verdienen müssen. In Deutschland macht der perfekte Schiedsrichter möglichst wenige Fehler. Und was Fehler sind, das legt der DFB-Schiedsrichterausschuss nach Gutdünken fest. Professor Doktor Konrad Koch hätte gewiss seine Freude an dem strikten Beurteilungssystem im deutschen Schiedsrichterwesen gehabt. Doch in heutigen Zeiten ist das in vieler Hinsicht überholt und dringend reformbedürftig. Höchste Zeit, etwas daran zu ändern.

 

 

 

 

 

 

 

 

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