Mut und Wahnsinn

Bereits nach zwei Spieltagen in der Zweiten steht beim VfB Stuttgart schon fest: Langweilige Spiele wird es mit der neuen Hochrisikotaktik der Schwaben nicht geben...

Der neue Stuttgarter Trainer Tim Walter ist eine imposante Erscheinung. Über 1,90m groß, stimmgewaltig und in der Summe geradezu respekteinflößend. Er gehört bestimmt nicht zu den Ängstlichen sondern zu den Mutigen unter den sprichwörtlichen Hasen am Cannstatter Wasen. Und Mut ist genau das, was er auch von seinen Spielern fordert. Tim Walters Spielphilosophie verlangt der Spieler Mut für das kompromisslose Befolgen einer ballbesitzorientierten Spielweise in jeder Situation. Das ist zumindest für den Torhüter und für die klassisch ausgebildeten Innen- und Außenverteidiger eine große psychologische Hürde. Tim Walter verlangt die größtmögliche Spielkontrolle über den Ballbesitz und das vom eigenen Tor bis zu dem des Gegners, und im Idealfall liegt er dann dort im Netz.

Walter fordert von den Verteidigern, und dazu gehört bei ihm auch ein mitspielender Torwart, sich auch unter Druck selbst im eigenen Sechzehner mit kurzen Pässen den besten, das heißt schnellsten Weg nach vorn zu suchen. Der schnellste Weg ist dabei nicht immer der sicherste. Das reine Verteidigen ist für Tim Walter keine taktische Option und selbst Befreiungsschläge in höchster Not nach vorn sind nahezu tabu. Damit das nicht allzu häufig vorkommt, stehen die Verteidiger bei Ballbesitz in diesem Spielsystem extrem hoch im Mittelfeld, mit dem stets anspielbaren Torwart dahinter, sozusagen als Libero. Die traditionelle Struktur der Viererkette ist bei Ballbesitz kaum noch zu erkennen. Im knapp gewonnenen Heimspiel gegen Hannover war das aus der Stuttgarter Fankurve heraus zu Beginn etwas seltsam anzuschauen, den Torhüter Gregor Kobel meist weit draußen auf dem Acker zu sehen, während die Innen- und Außenverteidiger sich sehr unorthodox mit vielen Positionswechseln aktiv im Angriff beteiligten.

Und noch gewöhnungsbedürftiger war das Klein-Klein-Spiel zwischen Kobel und den Innenverteidigern Kaminski oder Kempf im eigenen Sechzehner, was wir mit dem Wegfall der Anspielgrenze außerhalb des Strafraums bestimmt noch öfter sehen werden. Manche nennen es gewöhnungsbedürftig und andere einfach nur verrückt. Sehr mutig fanden viele VfB-Fans beim Auswärtsspiel in Heidenheim auch, dass die Verteidiger mit dem nicht gerade hasenschnellen Badstuber ihre Verteidigungslinie häufig im Mittelfeld aufbauten, während sich die Stürmerkollegen ganz vorn darin versuchten, eine kleine Lücke im Heidenheimer Abwehrbollwerk zu finden. "Sind die wahnsinnig? Bei einem Konter kommt der alte Mann doch niemals schnell genug zurück!" Auch daran wird man sich als VfB-Fan gewöhnen müssen. Tim Walter hat den Stuttgartern nämlich das gleiche Spielsystem verordnet, mit dem er schon bei Kiel erfolgreich war. Der "Paderball-Blog" aus Paderborn hat den vermeintlichen Wahnsinn dieses Systems nach dem letztjährigen, legendären 4-4 der Kieler in Paderborn treffender beschrieben, als ich es jemals könnte:

"Das Aufbauspiel der Störche ist einzigartig. Tim Walter hat es sich bereits in seiner Zeit bei Bayern München zum Ziel gemacht, eines der letzten Paradigmen im Fußball zu sprengen – die Innenverteidigung. Die Innenverteidiger-Position ist seit jeher die letzte Bastion der Solidität. Innenverteidiger können zwar breit stehen und Andribbeln, aber unter keinen Umständen die erste Linie verlassen. ... Da einfaches Vorschieben der Innenverteidiger noch nicht ausreichend zu sein scheint, gab es zwei weitere Mittel zu sehen. Zum einen konnte ein vorgeschobener Innenverteidiger als pendelnder Sechser, mehrere Momente lang hinter Paderborn Sturm verschieben, zum Anderen wich der Innenverteidiger somit weit auf den für ihn fremden Flügel aus. ... Darüber hinaus gibt es Momente, in denen der Innenverteidiger seinen Außenverteidiger für einen Doppelpass unterläuft, wenn die Paderborner Stürmer hoch stehen und der Pass in den Halbraum möglich ist. Somit wird nicht nur der strategisch wertvolle Halbraum, vormals unbesetzt, anspielbar, auch die erste Pressinglinie kann ausgehebelt werden. Nicht nur die Vielzahl an Varianten ist beeindruckend, das Risiko, das billigend in Kauf genommen wird, ist unfassbar. Die Störche haben unter Tim Walter den endgültigen Sprung von der Klippe der Vernunft gewagt - und es ist wunderbar."

Über Tim Walters Erfolg und Misserfolg beim selbsternannten Aufstiegsfavoriten VfB entscheiden neben den nackten Ergebnissen auch, wie lange die Vereinsverantwortlichen bereit sind, hinter dem vermeintlichen Wahnsinn auch das Genie zu erblicken und nicht zuletzt auch den Mehrwert des höchst attraktiven Fußballs für die Fans. Dabei wird die Toleranz und die Geduld der seit Jahren extrem konservativ agierenden Vereinsführung entscheidend sein. Die Neubesetzung der nach dem Rücktritt Wolfgang Dietrichs freigewordenen Ämter spielt bei folgenden Fragen eine entscheidende Rolle. Wird die neue Vereinsführung der Mannschaft die Zeit geben, mit Tim Walter diesen Wandel und eine nahezu komplette Neuausrichtung des Spielstils und der Vereinsphilosophie umzusetzen? Oder wird, wie bei Zorniger und Wolf ihrerzeit geschehen, nach den ersten Negativerfahrungen gleich wieder der Trainer entlassen und alles infrage gestellt? Es bleibt den VfB-Fans zu wünschen, dass Tim Walter diese Zeit bekommt, auch auf die Gefahr hin, dass es nichts wird, mit dem direkten Wiederaufstieg. Dazu braucht es nur etwas Wagemut und die ehrliche Bereitschaft zur Veränderung.

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