Wenn der Schnee schmilzt

Wo sich Hitzlsperger verrannt hat, wird es immer eisiger. Er behauptet, es ginge ihm um den VfB. Welch unverschämte Lüge! Um rauszufinden, worum es ihm wirklich geht, sind wir Schlitti fahren gegangen.

Die Dinge sind außer Kontrolle geraten. Bisher galt in Stuttgart das Gesetz der rot-blauen Verhältnismäßigkeit. Es lautet: Wenn bei den Roten die Kacke dampft, brennt sie bei den Blauen schon längst. Beweise? Bitteschön: Als der VfB die Führungspersönlichkeit Wolfgang Dietrich zum Präsidenten wählte, hatte dieser die Kickers längst tiefer gelegt. So kam es, dass beim roten Bundesligaabstieg im Jahr 2016 die Blauen zeitgleich in der Versenkung verschwanden. Als später der rot angelaufene Dietrich im netten Plausch mit einer anderen Maultasche ertappt wurde, dem Alice-Weidel-Anwalt Joachim Steinhöfel, war die AfD bei den Kickers längst im Förderkreis vertreten – in Person von Steffen Ernle, damals stellvertretender AfD-Sprecher im Kreisverband Böblingen. Als die Roten im Jahr darauf erneut abstiegen – es war im Jahr 2019 – scheiterten die Blauen in der Relegation der fünften Liga.

So war das früher: Während die Roten empört über die Kacke lamentierten, in die sie hineingetreten waren, standen die Blauen schon dreckig da und putzen verzweifelt ihre Schuhe. Das galt bis vor zwei Wochen. Jetzt kann man die Stuttgarter Kack-Regel den Gully runterspülen. Am vorletzten Tag des alten Jahres veröffentlichte Thomas Hitzlsperger einen offenen Brief, mit dem er sich für die Allmacht beim VfB bewarb. Besser kann man sich nicht in den Haufen stellen. Mittendrin statt nur dabei. Mit weiß-roten Moonboots. Die Blauen? Sie sind von der Bildfläche verschwunden, coronabedingt. Die grinsen sich eins.

Lost in Translation

In puncto Ablenkung von der Coronakrise kann den Hasen vom Wasen niemand das Wasser reichen. In der Hauptrolle: der geschätzte TV-Sympath Hitzlsperger. Überraschung: In der aktuellen Handlung ist sein Charakter vielschichtig angelegt. Bis dato verkörperte er das uneingeschränkt Gute. Jetzt sind Abgründe sichtbar. So entsteht Spannung. All das haben die großartigen Blogger vom vertikalpass geistesgegenwärtig erkannt. Schon am Abend des 30. Dezember setzten sie über das Geschehen ihre emblematische Headline "House of Cannstatt". Seither geht's rund. Sogar so rund, dass selbst die Andi-Brehme-Regel versagt. Von wegen "Haste Sch...e am Fuß, haste Sch...e am Fuß". Die Goldfüßchen des weißroten Profiteams lassen den Marktwert der Mannschaft explodieren. Eigentlich praktisch in der klammen Coronazeit. Sie liefern Spielfreude und Punkte, völlig unbeeindruckt von der Storyline im Hauptquartier. Ein Stoccarda Ensemble, wie man es selten sah. Die multinationale Mannschaft brilliert auf Fußballdeutsch. "Geh!" "Lass!" "Tiefe!" und "Tor!" Wichtige Worte bestehen aus wenigen Silben, sagen die Sprachforscher. Auf dem Platz herrscht blindes Verständnis. Gleichzeitig hält sich das Team fern von unnötigen Vielsilbenvokabeln wie Mitgliederdatenweitergabeskandal. Das ist 1A Rollenverständnis. Bravo VfB. Jetzt noch die Haare nicht ganz so schön, dann passt das.

Lost in Cannstatt

Zu loben ist auch Thomas Hitzlsperger. Der hat sich am Freitag in angemessener Form zu Wort gemeldet. Er bittet den von ihm ramponierten VfB-Präsidenten Claus Vogt persönlich um Entschuldigung. “Ich habe mich im Ton vergriffen", gibt er zu. Das erinnert in seiner Offenheit an Bodo Ramelow, der neulich zu seiner falschen Corona-Politik aus dem Herbst sagte: "Die Kanzlerin hatte recht, ich hatte Unrecht." Solche Sätze machen zwar nichts rückgängig, aber sie sind geeignet, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen.Ein feiner Unterschied fällt allerdings auf: Ramelow hat seine Politik geändert. Hitzlsperger nicht. Der Ex-TV-Sympath darf sich ebenfalls ankreiden, dass er die "Wucht seiner Worte" kalt lächelnd ignorierte als sie bei Claus Vogt einschlug. Erst jetzt kommt seine Entschuldigung, nachdem sich der Wind gedreht hat, und ihm mit voller Wucht ins eigene Lächeln schneidet.

Doch der VfB wäre kein zünftiger Chaosclub, wenn nicht die Art der Veröffentlichung weitere Verstörung auslösen würde. Während die offene Hitzschrift vom Jahresende via eigene Website an die Mitglieder posaunt wurde, wird nun die aktuelle Entschuldigung über die offiziellen Medien der VfB AG verbreitet. Damit kehren ausgerechnet diejenigen auf die Bühne zurück, die das Schlamassel vor Jahren verursachten. Die Abteilung Datenschleuder aus der Hitzlspergerallee mischt sich aktiv in den Wahlkampf ein. Ein absolutes No-Go. Der kommunikative Dilettantenstadl leckt seinem Vorstandsvorsitzenden die Moonboots. So geht Karriere beim VfB. Dass der Stadl zudem das Gerücht lanciert, Claus Vogt wäre isoliert, unterstreicht die Bodenlosigkeit der systematischen Hitzhetze.

Lost in Leaks

Die Schleudern werden allen Grund dafür haben. Warum weigert sich eigentlich die VfB AG so standhaft, die Unternehmensberatung Esecon zu unterstützen, die sie selbst mandatiert hatte, den Skandal aufzuklären? Warum verzögert Hitzlsperger offenbar selbst die Aufklärung des Skandals? Willkommen im Bereich wildester Spekulation: Die Aufklärung könnte Hitz zu seinem treuen Seilschafter Oliver Schraft führen, also zu dem Mann, der ihn zurück zum VfB holte. Zeitgleich mit seiner Präsi-Bewerbung betonte Hitzlsperger an anderer Stelle, dass er sich "brutal" für den bekumpelten Kommunikationschef einsetzt. Hitz hält Wort. Das darf man ihm lassen.

Damit sind die wichtigsten Darsteller des aktuellen VfB-Zyklus benannt, zumindest soweit bekannt. Hitz, Schraft und die AG-Gang haben allen Grund, sich vor der nächsten Staffel von "House of Cannstatt" zu fürchten. Gefahr droht von zwei Seiten. Zum einen von Esecon. Zum anderen von einem Character, der seit Beginn der Handlungen verdeckt operiert. Nennen wir ihn "The Masked Singer". Wer ist die Figur, die die veruntreuten Mitgliederdaten an Benni Hoffmann vom kicker Sportmagazin durchsteckte? Fest steht nur eines: Dieser Masked Singer (m/w/x) hat die Macht, das Haus vollends zum Einsturz zu bringen. So lange die VfB AG eine Aufklärung der Affaire verhindert, lädt sie alle Zuschauer zum Mitmachen und Mitspekulieren ein. Einladung angenommen. Wer sang hinter der Maske? Was plant er/sie/es als nächstes?

In diesem Zusammenhang lohnt es sich, zu einer Pilotfolge der VfB-Saga zurückzuspulen. Ein Hörspiel, das einen Grimme-Preis verdient: Die Schlittileaks des STR VfB Podcasts. Bereits im Frühling des letztes Jahres hatten sich die formidablen Podcaster Riky Palm und Sebastian Rose die Zeit genommen, Andreas K. Schlittenhardt ausreden zu lassen. Unter vier Stunden sind sie nicht weggekommen. Der ehemalige Kommunikationsberater von Wolfgang Dietrich verdiente beim VfB runde 700.000 Euro*. Er kümmerte sich unter anderem um die Ausgliederungskampagne. O-Ton Schlittenhardt**: "Es gab ein Kreativteam ... unter Führung vom mir, was das Kreative betrifft und Oliver Schraft als Vertreter des Vereins. ... Man hat die Zielgruppe sortiert. Das ist beim VfB ja ein dankbares Thema, weil ja die Mitgliederdaten in der Tiefe vorhanden waren. Die konnten wir damals filettieren, geografisch, demografisch, weil wir ja natürlich alle Daten von ihnen hatten...." Freund und Kupferstecher Schlittenhardt sprach ohne Maske. Schön gesungen hat er, das darf man ihm lassen. Der kann was, keine Frage.

The Lost Club

Wer verstehen will, warum um ein Datenleak so böse gerungen wird, darf sich gerne den O-Ton aus der Abt. Mitgliederverachtung anhören. Es geht um mehr als Datenschutz. Es geht um Respekt. Den Mitgliedern gegenüber. Die Manipulatoren von damals sind noch heute am Werk. Schlittenhardt ausgenommen. Die wichtigste Vereinsentscheidung seit 1893 wurde mit einer Propaganda durchgedrückt, als würde es sich um einen Sonderposten T-Shirts zu 3,99 Euro handeln. Ja, so geht Marketing, hahaha, nach hinten los. An der Selbstverzwergung des Vereins wird bis heute gefeilt. Jetzt greift Hitzlsperger als menschgewordene AG nach dem Verein. Dietrichs Werk und Hitzls Vollendung.*** Die Formulierungen des offenen Hitzbriefs vom 30. Dezember offenbaren: Alles wie gewohnt. Mitglieder als gutgläubiges Stimmvieh. Die werden das schon fressen. So war die Absicht. Aber es geht wieder schief.

Nochmal zum Mitsingen: Nach eigenen Angaben hatte Schlittenhardt Zugang zu den heißen Mitgliederdaten. Eine Einwilligung sie zu benutzen, lag und liegt nicht vor. Wir Propheten, die wir VfB-Mitglieder sind, müssen das wissen, unsere Daten sind darunter. Der brutale Kommunikationsexperte Schraft befand sich offenbar am Tisch, als die Mitglieder in Zielgruppen-Schubladen versenkt wurden. Entweder war Schraft ahnungslos, skrupellos oder gerade auf der Toilette. Indem sich Hitzlsperger heute vor ihn stellt, steht er auf der dunklen Seite der Macht. Vulgo: Mittendrin. Die Kosten der Aufklärung, die er Vogt in die Schuhe schieben will, kleben weithin sichtbar an seinen Moonboots. Eigentlich hat Schlitti ja schon alles aufklärt. Warum hat man dann Schraft nicht schon längst in die Kälte geschickt? Man muss also keine Prophetin und kein Prophet sein, um sich weitere Handlungsstränge der TV-Saga vorzustellen. Schlittenhardts angenehmer Hang zur Sichtbarkeit ist ihm dankenswerterweise erhalten geblieben. Bühne frei! Ja zum Erfolg.

Es ist Winter, beim VfB sogar einer der eisigsten der letzten hundert kalten Winter. Die Dinge sind außer Kontrolle. Man kann sich nur an einer blauen Regel festhalten, die unverändert gilt. Es ist das königsblaue Kack-Gesetz. Es wurde erstmals formuliert vom großen Philosophen Rudi Assauer. Es lautet: "Wenn der Schnee geschmolzen ist, siehst Du, wo die Kacke liegt."

 

*lt. Stuttgarter Nachrichten, ungewiss, ob in der Summe der Mediaetat für die Sozialen Netzwerke enthalten war oder nicht.

**O-Ton bitte im feinen Podcast von Riky und Sebastian nachhören. Schlittileaks ungefähr ab 1:04. By the way, Riky und Sebastian, ihr fehlt uns.

*** Danny hat auf Twitter Beispiele der offiziellen Ankündigungen zusammengetragen, die sich heute als maximalmanipulativ erweisen. Hier der Link zu seinem Profil. Ebenfalls lesenswert: Die Satzungsinitative von Ron Merz gegen Machtkonzentration auf seinem Blog Nachspielzeit.

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