Veteranen der vertanen Chance

„Veteranen, zu den Fahnen, wir gehören zusammen“. Kein gutes Zeichen, wenn der Soundtrack zum letzten VfB-Move aus Österreich kommt: von Kreisky. (Wer's nicht kennt: Video siehe unten)

Wenn man die Gegenwart nicht aushält, weil die Zukunft gerade ruiniert wird, flüchtet man sich in die Vergangenheit. Beim aktuellen VfB-Move (altdeutsch: Kehrtwende), muss man tiefer tauchen als gewöhnlich, um ein Beispiel zu finden. Vielleicht zurück ins Jahr 1967. Damals trennt sich der große Verein mit dem stolzen Brustring von Trainer Rudi Gutendorf und seinen modernen Methoden. Vorwurf: akute Abstiegsgefahr. Es übernimmt Albert Sing, ein routinierter Haudegen mit gutem Humor. Sing ist Co-Trainer beim Wunder von Bern, er organisierte das legendäre Trainingslager. Die deutsche Fußballgeschichte verdankt ihm den „Geist von Spiez“. Eine der ersten Amtshandlungen beim VfB: ab ins Trainingslager. (Wer selbst reservieren will: Hotel Oberwiesenhof, Besenfeld. Gibt’s heute noch.) Beim VfB geht es in die Geschichte ein als „Geist von Besenfeld“. Dort führt Sing sein Regiment. Waldläufe bei Eiseskälte. Abends Gesangsstunden. Gilbert Gress erinnert sich an „Hoch auf dem gelben Wagen“ und „Auf dem Wasa grasat Hasa“. Der große Franzose mit der Beatles-Frisur denkt, er sei im falschen Film. Er lässt es über sich ergehen. Der VfB hält die Klasse. Nach der Rettung wechselt Sing zügig zu 60 München. 

Was ist seit 1967 nicht alles passiert: Totaalvoetbal, Viererkette und Tikitaka. Aufklärung, Migration und sexuelle Revolution. Globalisierung, Digitalisierung und smartphone. Heute gibt’s Soul Food im VfB-Clubrestaurant. Frauen kicken im Brustring. Halt nicht im Robert-Schlienz-Stadion. Dort gibt’s zu wenig Platz. Die Männer spielen da, zuletzt 0:3 gegen Luzern in einem Freundschaftskick, dessen Ergebnis man keinesfalls überbewerten darf. Erstes Spiel des neuen Herbergsvaters namens Bruno Labbadia. Gleich zum Fürchten. Logische Konsequenz: Trainingslager wird um vier Tage verlängert. Der Geist von Malaga, er lebe hoch, hoch, hoch!

„Veteranen, 
zu den Fahnen, 
wir gehören zusammen“

Zicke-zacke-zicke-zacke. Vau-Eff-Bee! Ob Zick-Zack oder Kehrtwende: Seit letzter Woche folgt die VfB Stuttgart 1893 AG einem neuen Plan. Schulden drücken, Abstiegsgefahr besteht. Also wird die Notbremse gezogen – so simpel ist die Erzählung, die der Verein strickt. Der VfB holt ein uraltes Narrativ aus der Mottenkiste. Aus dem „Weg“ wird ein „Plan“. Dieser besteht aus Trainingslager, Trainingsplan, Kondition, Laufbereitschaft, Erfahrung, Teamgeist und einem altbekannten Lohntrainer aus Südhessen mit Gefühl für das, was die Mannschaft jetzt braucht. Statt Datenanalyse soll jetzt Brunos „Gefühl für die Mannschaft“ helfen. Schlicht und unterkomplex. „Da hab ich ja die Erfahrung“, betont Labbadia mehrmals auf der Pressekonferenz. Nicht weil er vermutet, die Presseleute hätten es nicht verstanden. Es fällt ihm keine andere Formulierung ein. Rhetorik ist nicht so seins. Auf der Pressekonferenz zur Trainervorstellung wirkt der Trainer wie eine sprechende Marionette, der man gerade eben die gewünschten Stichworte souffliert hat. „Diese Erfahrung habe ich ja“, wiederholt die Marionette den Satz, den sie bei ihrer Entlassung baugleich wiederverwenden kann.

„Sehr geehrte Damen und Herrn 
vom Verband der anonymen Loser, 
Hiermit ersuche ich um Aufnahme 
meiner unglücklichen Person“

Die Reise in die Vergangenheit trägt durchaus sympathische Züge. Allen voran die Tatsache, dass nichts aufgebläht und nichts verschleiert wird. So ist Fußball. Bruno Labbadia taucht aus der Versenkung auf, als Gesicht einer neuen Biederkeit. Seine Methoden bleiben schlicht und nachvollziehbar. Nach der neuen Stuttgarter Lesart braucht man keinen pseudoanalytischen Mix aus hängender Neun und anderen Pressingauslösern. Die Taktikgurus auf den Rängen müssen ihre Spielanalysen wieder selbst erledigen. Sie werden es in der Hoffnung tun, dass die Spieler mitlesen. Auch der Wasserkocher Labbadia ist beileibe kein Unsympathischer. Ganz im Gegenteil. Selbst bei seiner Fundamentalkritik am Publikum („Die Trainer sind keine Mülleimer“) trommelte er wie ein aufgedrehtes Duracell-Häschen, den man am liebsten gestreichelt hätte. Damals im Jahr 2012 bei seinem ersten VfB-Anlauf. Zehn Jahre später wirkt er, als hätte er ausschließlich den TV-Frühschoppen am Sonntagmorgen als Fortbildungsseminar genutzt. Quasi Worst-of-Doppelpass. Reicht doch fürs untere Mittelfeld der Bundesliga.

Labbadia steht nun symbolisch als menschgewordenes Ende des VfB-Weges. Die Erzählung vom Weg hatte den Fans Hoffnung gegeben. Jetzt hat sie ausgedient, plötzlich und unvermittelt. Sie hatte den Verein von anderen Clubs unterschieden. Mit ihm war die Hoffnung auf bessere Zeiten verbunden. Selten in der VfB-Geschichte wurde eine Mannschaft so gefeiert, obwohl sie abzusteigen drohte. Der Klassenerhalt ist nicht zuletzt dem brodelnden Kessel zu verdanken, der in der 87. Minute beim Spiel gegen Köln die passende Temperatur lieferte. Dort wo einst der Weg verlief, sitzt jetzt ein verschlissener Übungsleiter aus dem Bundesligakarussell. Im Gepäck hat er einen schlichten Plan aus Rotz, Schweiß und Tränen. Die Rückfall wird mit Pauken und Trompeten moderner Bauart orchestriert. VfB Social Media feiert Training im Schneetreiben. Man erkennt Labbadias eisiges Näschen in der Trostlosigkeit des Neckarparks. Der angeblich härteste Trainingsplan der Liga wird geleakt. Die Medien springen drauf. Vorstandsvorsitzender Wehrle spricht von Kontinuität, obwohl er selbst weiß, dass es keinen Sinn ergibt. Weitere Visionen sucht man vergebens. Bruno, der Herbergsvater, muss erst ein Gefühl für die Mannschaft bekommen. Aus diesem Gefühl heraus hat Labbadia vor zwanzig Jahren in Darmstadt Feldbetten für die Mittagspause aufstellen lassen. Mit der Kasernierungsmethode war er damals aufgestiegen. Jetzt will er den VfB wieder dorthin führen, wo er laut selbstgewähltem Slogan hingehört: tief in die Zeiten als „furchtlos und treu“ noch positive Attribute waren. Man muss dienen und folgsam sein. Kameradschaft auf Befehl. Dis. Zi. Plin. Männnnner. Heiliges Königreich!

„Der versäumte Einsendeschluss. 
Der nicht gegebene Kuss. 
Die Packung Wein vor dem Bewerbungsgespräch.
Und jedes Mal und überall und immer zu spät.“

Das gestrige Weltbild des neuen Riegenführers blitzt auf in Sätzen, die er bei der ersten Pressekonferenz frei spricht, praktisch ungeskriptet, wage wahrzunehmen zwischen Ähs und anderen Denkpausen. Auf einen Skiunfall von Bayern-Keeper Neuer angesprochen, nimmt der neue Befehlshaber Bezug auf die Hautfarbe seiner Spieler. Warum eigentlich? Womöglich ahnt er beim Reden, dass er gleich in einen Fettnapf tritt, den ihm niemand hingestellt hatte. Seine Sätze bleiben auf merkwürdige Art unvollendet. Beim geneigten Publikum bleibt haften, wie Äußerlichkeiten des Trainers Fantasie beflügeln. Kein Thema für einfache Antworten, aber auch keines für vollverschusselte Formulierungen. Dreieinhalb Gedanken später kommt Labbadia zu folgender bahnbrechenden Feststellung. Der Erkenntnistheoretiker wörtlich: „Die Prioritäten, die sind in so ner Phase, wie wir sind, die allerwichtigsten.“ Gewiss, man soll Sätze, zumal aus dem Zusammenhang gegriffen, nicht hochsterilisieren. Schön wäre es trotzdem, wenn man überhaupt eine Botschaft erkennen würde. Auch wahr: Der Trainingsplatz ist kein Rhetorikseminar. Übrig bleibt jedoch die Vermutung, dass an Bruno Labbadia ein wirklich guter Co-Trainer verloren gegangen ist. Es gibt tausendundeinen andere Trainer, die ihre Karriere ohne jedes Verbalfail beenden. Wohlgemerkt: Es geht nicht um das Alter des Trainers oder seiner Kollegen. Es geht um das Alter seiner Methoden und seines Führungsstils. Ein Hauch von Egon Coordes, die VfB-Veteranen werden sich erinnern. Es wird nicht lange dauern bis Labbadia von einer Kampagne gegen sich faselt. Auch das gab's schon bei Coordes. Und bei Labbadia. Mülleimer reloaded.

Von kleinen Formulierungen zurück zu großen Narrativen – selbst auf die Gefahr hin, des inflationären Gebrauchs eines Modewortes angeklagt zu werden. Narrative sollte man nicht all zu ernst nehmen. Es sind Erzählungen, gelegentlich gezielte Verschönerungen einer trüben Realität. In diesem Sinne sind sowohl Mislintats Weg als auch  Labbadias Plan zu verstehen: als Wunschvorstellung. Andersrum gilt: Materazzo dürfte das Konditionstraining ebenso gut beherrschen wie Labbadia die Software zur Spielanalyse. Man hatte beim VfB nur die Nase voll von einem Herrn Sportdirektor, der ganz alleine weiß, wie die Fußballwelt funktioniert. Einem, der einen Trainer unter anderem beurlaubte, weil er ihm nicht mehr in die Aufstellung quasseln durfte. Man wollte einen loswerden, der eine billige Casting-Show um die Trainerfindung aufführte, nur um einen Assistenztrainer zu befördern, der brav diejenigen aufstellte, die eine Marktwertsteigerung dringend nötig hatten. Einem, der so laut von Teamwork fabulierte (was er im modischen Neusprech als „Gruppe“ verkleidete), bis er im Verein keinen mehr fand, der ihm zuhörte. Einem, dem mitunter vorgeworfen wurde, dass er die Spielanalyse nur als Verschleierung benötigte, damit er gewisse Spielerberater ungestört bevorzugen konnte. Die typische Mislintat-Manier waren viele in Verein und AG satt geworden, diesem angeblichen Diamantenauge, der mehr als Pressesprecher überzeugte als als Kaderplaner. Der Mislintat-Überdruss erscheint verständlich, zumal die Tabelle bekanntermaßen die Wahrheit spricht. Der VfB ist aktuell Sechzehnter. In der letzten Saison wurde er Fünfzehnter. Gerade so. Mit Hängen und Würgen schickte er die Hertha in die Relegation, also genau den Club, der von jenem Felix Magath trainiert wurde, der als Urheber der Rotz-, Schweiß- und Tränen-Strategie gilt. Morgen, 7.30 Uhr ist Trainingsbeginn beim VfB. Das Trainerteam besteht auf Pünktlichkeit. Hoffentlich ist der VfB-Physio auch pünktlich. In der Rehawelt sind Plätze frei. 

 

Veteranen, zu den Fahnen, wir gehören zusammen.

Die Vorrunde ist noch nicht zu Ende – und schon steckt der VfB in einer Situation, in der er kaum noch etwas gewinnen kann. Die neue Hoffnungslosigkeit wird sogar beim erfolgreichen Klassenerhalt nachwirken. Der Verein ist bereits abgestiegen, im Ansehen auf jeden Fall. Die Brustring-AG investiert Unsummen in einen zweifelhaften Kurswechsel, der weite Teile seiner Stammkundschaft vor den Kopf stösst. Dank einer Unterschriftensammlung lässt sich die Unzufriedenheit quantifizieren: 12.000 plus Dunkelziffer plus diejenigen, die Labbadia für einen gespielten Witz halten. Ob die Entscheidung, sich ehrlich zu machen und die eigene Verzweiflung öffentlich zu dokumentieren, das Team stärkt, darf ebenfalls bezweifelt werden. Egal ob Spieler oder Stuff –  man kann keinem böse sein, der sich parallel auf dem Arbeitsmarkt nach Alternativen umschaut. So lockt man Headhunter an. Aber der VfB muss sowieso Stellen abbauen. Vor diesem Hintergrund wirkt es nur halb durchdacht, dass Labbadia und sein Trainerteam mit langfristigen Verträgen ausgestattet wurden. In Salär und Laufzeit eingepreist sind Schmerzensgeld fürs totalbeschädigte Trainer-Renommee und seine gute Verhandlungsbasis bei Vertragsauflösung.

Veteranen der vertanen Chance, wir gehören zusammen.
Veteranen der vertanen Chance, wir gehören zusammen.

Man soll die großen Katastrophen auf der Welt von den kleinen trennen, sagt man. In sofern handelt es sich bei Fußball und dem VfB-Rückfall um eine winziges Kataströphchen. Die Bundesliga wird bleiben wie sie ist. Bayern wird Meister, der Rest benötigt einen Grund zur Hoffnung sowie genügend Abstand zu den Abstiegsplätzen. Bleibt zu hoffen, dass es wenigstens mit letzterem funktioniert. Der Abstand zu den Abstiegsplätzen liegt in den Händen eines mittelmäßigen Karusselltrainers. Seine Vita belegt: Am längsten blieb er tatsächlich beim VfB. Passt doch. Wie gut, dass die durchschnittliche Verweildauer von VfB-Trainern nur rund 13 Monate beträgt (seit Bundesligazugehörigkeit). Die zweiten Versuche sind dabei besonders kurz. Siehe Jürgen Wundermann. Siehe Meisterarmin Veh. Der neue Sportdirektor Fabian Wohlgemuth hat noch mehr als eine Rückrunde, um mit einer Vier-Trainer-Saison die Klasse zu halten. Viele werden es mit gedämpfter Euphorie und etwas mehr Abstand verfolgen. Wie die Reality Show weiter geht, nachdem neue Laiendarsteller in den Neckarpark eingezogen sind? Ein letzter Blick in die Vergangenheit.

In der Saison 1974/75 steht der große VfB Stuttgart frühzeitig auf einem Abstiegsplatz. Um genau zu sein: Im Dezember auf Platz 16. Nach einer 0:6-Niederlage in Kaiserslautern muss Trainer Hans Eppenhoff gehen. Albert Sing übernimmt. Im Frühjahr bezieht die Mannschaft ein Trainingslager in Besenfeld. Es werden Laufeinheiten absolviert. Der Mannschaftsgeist wird gestärkt. Angeblich ist viel gesungen worden. Ergebnis am Ende der Saison: Der VfB steigt ab. So ist das mit den Trainerwechseln. Manchmal klappt’s, manchmal nicht.

Und jetzt alle:

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Als ich den Untertitel "Unberechenbar seit 1893" formulierte, ahnte ich noch nichts von aktuellen Debakel. Das Skript zum Buch wurde im Juni 2022 fertig gestellt. Vielleicht ganz gut so. "VfB Stuttgart – Populäre Irrtümer und andere Wahrheiten" ist im November 2022 im Klartext Verlag erschienen. In allen gut geführten Buchhandlungen erhältlich. Im VfB-Shop eher nicht. Man soll ja das Objekt der Berichterstattung vom Vertrieb sauber trennen. 

Für Buch und Veteranen-Glosse gilt: "Zeig' mich an und ich öffne einen Sekt. Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt" (Danger Dan)

 

Bilder in diesem Beitrag
VfB Trainerbank: Imago
VfB Stadion: Bernd Sautter

 

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