Wo der Doppeladler hinschaut

Das gute Fußballbuch: "Onkel Enver, der Fußball und eine Radreise durch Albanien" von Hardy Grüne. Erschienen im Zeitspiel Verlag. 

In schlechten Zeiten kann Fußball eine Rettung sein. In weniger schlechten Zeiten sollte man den Fußball retten. Das einst komplett abgeriegelte Albanien verzeichnete zu Zeiten des blutigens Stalinismus den höchsten Zuschauerschnitt Europas, wenn man die Zuschauer im Verhältnis zur Bevölkerungsstärke setzt. Unter dem brutalen Regime von Enver Hoxha konnte man sich kaum ungestört treffen, es sei denn im Stadion. Fußballspiel und Zuflucht. Neunzig Minuten, um das Gefangensein im eigenen Land zu vergessen. Doch heute, wo die Grenzen längst offen sind, stinkt das nächste Dilemma zum Himmel. Korruption,  staatliche Willkür und Hoffnungslosigkeit sind 30 Jahre nach Hoxha nicht besiegt. Albanien droht an der Freiheit zu scheitern. Und falls die Erzählung, dass der Fußball ein Spiegelbild dafür wäre, einmal zutrifft, dann möglicherweise in Albanien. 

Verblühte Landschaften, aber faszienierend

Immerhin: Man kann inzwischen mit dem Fahrrad durchs Land reisen. Hardy Grüne hat das getan – und ein Buch mitgebracht, das in kein Genre passt. Ein Radreise-Tagebuch, ein faszinierendes Fußballbuch und eine nahezu komplette Aufarbeitung der albanischen Geschichte. Die ganzen albanischen Input, den fußballerischen, den historischen und den literarischen in eine Buch zu packen, das ist eine Meisterleistung, die Respekt verdient - und vom Durchhaltevermögen auf totalramponierten Eselswegen, die in der Karte als Landstraße verzeichnet sind, haben wir noch gar nicht gesprochen.  Grüne schließt Bildungslücken, die sich wohl in wenigen Landstrichen so zahlreich auftun wie im Zusammenhang mit Albanien, das nach wie vor als eines der rätselhaftesten Länder Europas gilt. Obwohl es mehr Aufmerksamkeit verdient hätte.

Ramponierte Stadien, aber spannend

Auf 350 eng beschriebenen Seiten radelt Grüne von einer Stadt zur anderen. Er keucht die Anstiege hoch, stürzt sich todesmutig in Abfahrten. Er quält sich auf zwei Rädern durch unübersichtlichen Stadtverkehr und genießt die Einsamkeit auf entlegenen Landstraßen. Danach trifft er sich in maroden Stadien mit Zeitzeugen von damals und Hoffnungsträgern von heute. Er besucht Landsleute, die aufbauen wollen, Landsleute, die bleiben wollen, und andere, die eigentlich nur noch da sind, weil sie noch nicht weg gekommen waren. Ganz nebenbei dokumentiert er die spannenden Geschichten, die sich hinter Luftëtari Gjirokastër, Skënderbeu Korçë und Vllaznia Shkodër verstecken. Er ordnet das Elend von Alltag und Liga-Alltag. Dabei erzählt er so abwechslungsreich, dass man auch in der fünfundzwanzigsten Stadt als Leser dran bleibt, weil man weiß, es wartet eine bemerkenswerte Story. 

Ist die Zeit wirklich stehen geblieben in Albanien, oder schafft das Land einen Aufbruch, der so unwahrscheinlich ist wie ein Europacupsieg von Partisani Tiranë? Nach der Lektüre des Buches würde man sich am liebsten selbst auf die Reise begeben, um nachzuschauen, wie die Chancen stehen. Mehr kann ein Buch nicht leisten. Buchhändlern und Online-Shops sei geraten, es in gleich drei Genres einzuordnen: als hundertprozentiges Reisebuch, als umfassenden Historienband und als ein Buch eines absoluten Vollblut-Fußballforschenden.

 

 

Hardy Grüne
Onkel Enver, der Fußball und eine Radreise durch Albanien
352 Seiten
ca. 400 Farbfotos
ISBN: 978-3-96736-006-6

Bezug über den Webshop des Zeitspiel Magazin

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