Der Mythos vom Traditionsverein

Ein Nachklapp zur Podiumsdiskussion beim Stuttgarter VfB-Fan-Projekt zum Thema Traditionsvereine mit dem "Fußball-Historiker" Hardy Grüne...

Ist nicht so einfach zu fassen, diese Kombination von Fußballverein und Tradition. Das war während der vom geschätzten Kollegen Bernd Sautter sehr unterhaltsam moderierten Podiumsdiskussion zum "Traditionsabend" im VfB Stuttgart-Fan-Projekt sehr schnell klar. Die Teilnehmer waren, neben dem Fußballbuch-Autor und "Zeitspiel"-Mitherausgeber Hardy Grüne, der Sportökonom und VfB-Vereinsbeirat André Bühler sowie der VfB-Pod-Caster Martin Harsch vom sehr hörenswerten "Brustring-Talk". Allein die Definition des Begriffes Tradition in Zusammenhang mit dem Fußball fiel gleich zu Beginn der Diskussion etwas komplizierter aus, als von vielen vermutlich zuvor gedacht und schien eindeutig gar nicht möglich. Was bedeutet das Wort Tradition in diesem Zusammenhang? Was macht eigentlich einen Traditionsverein zu einem solchen und wie unterscheidet der sich von anderen Vereinen?

In Wortfragen empfiehlt sich natürlich zunächst der Blick ins Wörterbuch. Laut Duden ist der Traditionsverein, "ein Verein, der auf eine lange Tradition zurückblicken kann". Na ja, das dachte man sich ja schon, doch hilft es ja nicht viel weiter. Was ist denn nun diese Tradition? Die definiert der Duden kurz und präzise formuliert, als "etwas, was im Hinblick auf Verhaltensweisen, Ideen, Kultur o. Ä. in der Geschichte, von Generation zu Generation (innerhalb einer bestimmten Gruppe) entwickelt und weitergegeben wurde (und weiterhin Bestand hat)".

Zusammengenommen bedeutet das für einen Fußballverein, dass er über lange Zeit in der Vergangenheit, eine Kultur, Verhaltensweisen oder Ideen entwickelt hat, die innerhalb dieses Vereins von Generation zu Generation "weitergegeben", also im Wortsinne "tradiert" werden. Hmm... Wenn man das Fußballspiel an sich oder das Anschauen eines Fußballspiels durch die Mitglieder bzw. Fans des Vereins als "Kultur, Verhaltensweise oder Idee" betrachtet, die von Generation zu Generation weitergegeben wird, dann kommen wir dem, was die Tradition eines Fußballvereins ausmachen könnte, schon sehr nahe. Das Problem ist nur, dass sich auf dieser Definitionsbasis jeder Kleckerlesverein, der seit wenigstens zwei Generationen, also bereits seit circa 50 Jahren in irgendeiner Kreisliga am Start ist, Traditionsverein nennen kann und auch ruhig sollte. Topp, sagt da der Hopp, Hoffenheim ist da mal ganz dabei.

Geht gar nicht, rufen dann viele. In der gegenwärtigen Diskussion über Traditionsvereine im Fußball wird diese auf eine gewisse Zeitspanne des Tradierens abhebende Definition deshalb um gleich mehrere weitere Bedingungen erweitert. Die einen meinen, das mit der Tradition beziehe sich auf die langjährige Zugehörigkeit in einer der höchsten Ligen. Andere wollen das sogar auf die langjährige Teilnahme in den zwei Bundesligen begrenzen. Was natürlich etwas problematisch ist, da diese ja nur knapp und gerade mal zwei Generationen alt ist. Die in der Fan-Szene als "Nicht-Traditionsvereine" verschrienen Clubs in Wolfsburg und Leverkusen hätten damit aber kein Problem. Die spielen da schon länger bzw. spielten da schon öfter mit, als so mancher vermeintlich ausgewiesener Traditionsverein, wie etwa Rot-Weiß-Essen. RWE ist ja gefühlt seit der Gründung dieser Ligen vor über 56 Jahren schon immer dabei, durfte sich seither aber tatsächlich nur bei knapp 25 Spielzeiten Erst- oder Zweitbundesligist nennen. Erzähl das mal einem RWE-Fan. Geht also auch nicht. Begrenzt man das Ganze etwa auf die Zeit beginnend nach dem 2. Weltkrieg und die damals existierenden Ober- und Regionalligen bis hin zu den Bundesligen, wird's schon enger für die Bayer- und Volkswagen-Traditionalisten.

Diese zeitliche Schiene romantisiert dazu den Mythos vom Fan, der seinem Verein die Treue hält, weil das schon sein Vater und Großvater in all den Jahrzehnten zuvor getan haben. von Generation zu Generation. Das mag es durchaus häufig geben, doch wäre das die Grundbedingung dafür, Fan eines Traditionsvereins zu sein, dann wären die Fankurven vermutlich nur sehr dünn besetzt. Bei Licht betrachtet, bleibt bei dieser Diskussion über Traditionsvereine nur noch übrig, dass die Tradition vor allem zur argumentativen Abgrenzung von künstlich entstandenen Fußballunternehmen aus der Mottenkiste gezogen wurde. Diese mit viel Geld gesponsert in die Fußballlandschaft hineingepflanzten Vereinskonstrukte wie Bayer Leverkusen, VfL Wolfsburg, die TSG Hoffenheim und RB Leipzig sind der größte Feind der im Fußball ums Überleben kämpfenden so genannten Traditionsvereine bzw. hauptsächlich derer Fans.

Die Diskussion um die Tradition oder fehlende Tradition eines Fußballvereins ist daher eher neueren Datums. Es geht also vor allem um die Diskreditierung der Vereine die sozusagen unlauter und nur mit Unmengen von Geld gesponsert sportliche Höchstleistungen vollbringen, während sich die "Traditionsvereine" den Erfolg über die ganzen Jahrzehnte hart erarbeiten mussten. So in etwa verläuft die Frontlinie zur Unterscheidung. Es geht also um die Art der Finanzierung des Erfolgs. Wer aber als Fan eines dieser Traditionsvereine mal die Finanzierungsmodelle betrachtet, die seinen Verein über den Verlauf der letzten Jahrzehnte über Wasser gehalten haben, kann nur zu dem Schluss kommen, dass es sich dabei bestimmt nicht nur um die Eintrittsgelder von Großvater, Vater und Sohn gehandelt hat. Es sind auch bei den sogenannten Traditionsvereinen schon immer die Sponsoren und Investoren gewesen, die den Laden finanziell und somit auch sportlich am Laufen gehalten haben und es immer noch tun. Bei manchen Vereinen ging das über die Jahrzehnte immer irgendwie gut und bei anderen eben auch nicht.

Seit etwa den Neunzigerjahren wird in den Bundesligen das Etikett "Traditionsverein" ziemlich inflationär verteilt. Das fällt und hängt zusammen mit dem Beginn des Engagements von Dietmar Hopp bei der TSG Hoffenheim. Seine anfänglichen Versuche in Mannheim und Heidelberg ein Fußballprojekt in nie zuvor gekannter Art aufzuziehen scheiterten am Widerstand dortiger Vereine, sodass Herr Hopp sich eben schließlich in dem Dorf seiner eigenen Fußballjugend den Traum verwirklichte. Anfangs noch belächelt, wuchs bei den etablierten Vereinen mit jedem Direktaufstieg die Sorge, dass sie mit diesem "Retortenverein" unter vermeintlich ungleichen Bedingungen sehr bald um die gleichen Pfründe konkurrieren müssen. Nach dem Beginn in der Kreisliga war nach 10 Jahren der Aufstieg in die Regionalliga geschafft. Danach wurde richtig investiert; 2008 waren sie im Oberhaus angekommen und sind seither dort jedes Jahr in den Top-Ten zu finden.

In den Vorstandsetagen der "Traditionsvereine" überwog der Neid auf die scheinbar unbegrenzten finanziellen Mittel in Hoffenheim. Bei deren Fans wandelte sich dieser Neid zu unverhülltem Hass auf den Investorenverein, die Fans dieses Emporkömmlings und vor allem Dietmar Hopp, der Investor, geriet ganz explizit etwa in Dortmund ins Fadenkreuz der Kritik. Der Konflikt Traditionsverein versus Nicht-Traditionsverein war geboren. Das plötzlich aufkommende Traditionsbewusstsein zur Abgrenzung trieb seither seltsame Blüten und schuf dazu passende Legenden. Die Ruhrgebietsvereine waren plötzlich allesamt aus Kohle und Stahl legierte Malocherclubs, Vereine der wahren Liebe und nur für echte Kumpel. Das Steigerlied wurde zur Pflichtveranstaltung vor dem Spiel und überall im Pütt fragte man sich, wo denn angesichts des Zechensterbens diese unzähligen Kumpel aus dem Bergbau plötzlich alle hergekommen sind.

Ehrliche Arbeit und Malochertum wurde als kämpferisches Merkmal des Fußballs etwa beim FC Schalke 04 zur Marke, was im Grunde durch nichts in der Geschichte des Vereins belegt ist. Ganz im Gegenteil. Wie Christoph Biermann es mal sehr schön formulierte, wurde der erfolgreichste Fußball im Ruhrgebiet, "Schalker Kreisel" genannt, einst von den Fans eher als "zirzensische Schönspielerei" gesehen, die hinterher nicht mal eine Trikotwäsche erforderte. Und auch für die so genannten Schalker Euro-Fighter war entegegen der Legende 1997 nicht allein der Kampf die Basis für den Gewinn des Uefa-Cups, sondern auch ein durchaus ansehnliches, taktisch vielseitiges Spielsystem. Solche Mythen sind bei den Fans offensichtlich sehr beliebt, denn sie schaffen ein Gemeinschaftsgefühl, obwohl sie letztendlich nur auf sehr clever eingesetzten Marketing-Claims beruhen.

Und auch beim VfB Stuttgart besann man sich vor etlichen Jahren plötzlich auf die Tradition. Man nahm dazu nicht die naheliegende und lange Arbeitertradition im Automobilbau zur Hilfe sondern eine etwas verquere Addition von Tradition und Heimat. Das begann so: Eine erfolgreiche Fan-Initiative hatte den Verein bewogen, das aus Marketinggründen modernisierte Vereinswappen (für den angeblich enorm großen, asiatischen Fan-Artikelmarkt) wieder in das "traditionelle" Wappen zurück zu ändern. Danach wurde in Sachen Tradition am Neckar etwas "überperformt", wie das heute so schön heißt. Der martialische Wahlspruch "furchtlos und treu", aus dem Wappen des Königreichs Württemberg entlehnt, transferiert den Traditionsanspruch des VfB Stuttgart etwas übertrieben in eine Zeit zurück, in der der VfB gerade mal gegründet war. Der württembergische König Wilhelm - "Grüß Gott Herr König!" - hatte da schon lange nichts mehr zu sagen und "Furchtlos und treu", der nationalistische Wahlspruch des Königreiches aus den Zeiten der großen Völkerschlachten des 19. Jahrhunderts, verschwand mit der Stuttgarter Mini-Revolution von 1918 endgültig aus dem Vokabular und den Landesinsignien.

Bis das VfB-Marketing auf die Idee kam, diesen bei einigen Fan-Gruppen hier und da mal in der Konkurrenz zu den badischen Vereinen genutzten württembergischen "Claim" für die Traditionspflege und die Umsatzsteigerung im Verein zu nutzen. Seither schmückt sich der VfB überall mit diesem Spruch und bei Spielankündigungen mit Portraits von sehr ernst drein blickenden Spielern dazu, die aussehen, als hätte Leni Riefenstahl sie in Szene gesetzt, damit Arno Breker sie hinterher in Stein meißeln kann. Da fragt man sich dann schon, was das soll.Nichts ist weiter von der Tradition dieses Fußballvereins entfernt als das. Und angesichts der derzeitigen Angsthasenauftritte des VfB und der nicht gerade von Treue geleiteten Personalpolitik ist diese Art der Vereins-Präsentation nicht nur als peinlich, sondern sogar als vereinsschädigend zu betrachten.

So wie auch bei der eingangs genannten Podiumsdiskussion Im Fan-Projekt Stuttgart geschehen, entlarvt sich bei näherer Betrachtung so manches sicher Geglaubtes über den so genannten "Traditionsverein" historisch als vollkommen substanzlos.

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