Steve Bloomer und seine verlorenen Jahre

Gestern vor exakt 100 Jahren endete der erste Weltkrieg, das deutsche Kaiserreich ging unter und mittenmang drin, in Berlin, erlangte einer der erfolgreichsten englischen Fußballer seiner Zeit die Freiheit zurück.
Jeder Fan der "Rams" von Derby County kennt Steve Bloomer. Nicht persönlich, aber vom Hörensagen. Immer dann zu hören, wenn die Vereinshymne "Steve Bloomer is watching" erklingt, bevor Manager Frank Lampard mit seinem Championship-Team den Rasen im Pride Park Stadium betritt. Bloomer spielte für Derby County von 1892 bis 1906 und gilt dort als erfolgreichster Stürmer aller Zeiten. Das gilt nicht ganz so, aber sehr ähnlich für den FC Middlesbrough, zu dem Bloomer 1906 für ganze 750 britische Pfund wechselte, dort in 125 Spielen 61 mal traf, um dann 1910 für weitere vier Jahre wieder in Derby die Tore zu schießen. Nicht ganz unbekannt ist Stephen "Steve" Bloomer auch in Berlin, genauer gesagt beim Berliner SV 1892 und schon sind wir mitten drin, im Kern dieser Geschichte.
Anfang Juli, im Jahr 1914, hatte sich der 40-jährige Steve Bloomer nach seinem Karriereende entschlossen, sein umfangreiches Wissen über Fußball als Trainer auf dem Kontinent zu versilbern. Seine erste Station, bei Britannia 92 Berlin, sollte dann vorerst schon die letzte auf dieser Mission gewesen sein. Nach nur drei Wochen Arbeitszeit beim Vorgängerverein des Berliner SV 1892 brach der erste Weltkrieg aus und Steve Bloomer wurde, wie alle im Kaiserreich anzutreffenden, "waffenfähigen" britischen Zivilisten und etwa auch die Matrosen der britischen Handelsmarine, gefangen genommen und interniert. Solch ein Pech, wird so mancher denken. Doch mit dem Wissen um das, was Bloomers Altersgenossen danach überall auf den Schlachtfeldern Europas blühte, kam diese Internierung im Nachhinein wie ein Glücksfall daher.
Bloomer und seine Mitgefangenen durften das Internierungslager für Zivilisten in Ruhleben nahe Spandau bei Berlin zwar nicht verlassen, doch ging man mit ihnen dort recht gesittet und pfleglich um. Sie waren ja nur zur falschen Zeit am falschen Ort und hatten eigentlich ja nichts Böses angestellt. Das Lager wurde damals am Rande der Trabrennbahn Ruhleben eingerichtet und "beherbergte" von Kriegsbeginn bis zum Kriegsende etwa 4000-5500 Internierte. Steve Bloomer war dort aber nicht der einzige Fußballer. Seit der Gründung des deutschen Fußballbundes im Jahr 1900 mit insgesamt 86 Vereinen waren englische Experten in diesem Sport im Kaiserreich sehr gefragt. Gemeinsam mit Bloomer wurden dort deshalb sowohl viele im Kaiserreich beschäftigte Spieler als auch weitere Trainer interniert, einige damals bereits europaweit bekannt.
Einer von ihnen war Fred Pentland vom FC Blackpool, mit dem Bloomer schon beim FC Middlesbrough zusammengespielt hatte. Er hatte in Berlin Athleten auf die Olympiade 1916 vorbereiten sollen und wurde nach kurzem Aufenthalt in Berlin ebenfalls vom Kriegsbeginn überrascht. Genauso erging es Sam Wolstenholme, der zuvor bei Everton und Norwich City gespielt hatte oder dem schottischen Nationalspieler John Cameron und auch John Brearley, einem ehemaligen Spieler von Everton und den Tottenham Hotspurs. Oder auch Fred Spiksley, eine Spielerlegende von Sheffield Wednesday, die zu der Zeit gerade den Clubberern beim 1. FC Nürnberg das Fußball-ABC beibrachte. Während der Kriegsjahre bildete sich im Internierungslager Ruhleben, auch "Engländerlager" genannt, so etwas wie ein Mikrokosmos der britischen Gesellschaft aus. Man bildete zum Zeitvertreib Cricket-Teams und, wie bei der Fußball-prominenten Insassenschaft nicht anders zu erwarten war, wurde auch Fußball gespielt.
Steve Bloomer und Konsorten gründeten die "Ruhleben Football Association" sowie zwei fiktive Clubs, die gegeneinander antraten, den einen nannten sie "Tottenham Hotspur" und den anderen "Oldham Athletic". Es gab regelmäßige Cup- und League-Spiele, bei denen, wenn es final um etwas ging, oft mehr als 1000 Zuschauer gezählt wurden. Fußball wurde im Herbst und Winter bis in den Frühling hinein gespielt und im Sommer begann dann die Cricket-Saison. Steve Bloomer war bei den Cricket-Turnieren einer der Stars und führte als Kapitän die Fußballmannschaft der Lager-"Spurs" aufs Feld. Trotz seiner damals bereits 41 Jahre, gab es als Stürmer keinen besseren als ihn. Er konnte sowohl mit Links als auch mit Rechts sehr präzise und hart schießen. Er traf das Tor zuverlässig und wie er wollte. Als seine Spezialität galt der sogenannte "daisy cutter", ein harter, sehr flach platzierter Schuss - der frei übersetzt "die Gänseblümchen wegrasierte". Und schnell war er dazu. Bei den Ruhleben Olympics, einer weiteren Sportveranstaltung im Lager, gewann der Sportrentner souverän den Sprint über 75 yards (68,5m) in 9,6 Sekunden.
Steve Bloomer erzielte als Stürmer während seiner aktiven Spieler-Karriere für Derby County und den FC Middlesbrough in insgesamt 655 Spielen 391 Tore, eine bemerkenswerte Trefferquote, die ihm einen Platz unter den 100 Legenden der Football League und in der English Football Hall of Fame sicherte. Nachdem er gestern vor hundert Jahren das Internierungslager verlassen durfte, lagen vier verlorene Jahre hinter ihm. Doch es dauerte nicht lang, bis er sein Ziel, Trainer im Ausland zu werden, konsequent weiterverfolgte. Verständlicherweise nicht in Deutschland, wo sich nach Kriegsende und den kurzen revolutionären Wirren die Weimarer Republik etablierte, sondern in den Niederlanden. Seine erste Station hieß Blauw-Wit Amsterdam. Bei den niederländischen blau-weißen "Zebras" hielt es ihn aber nicht lang, denn er strebte nach Höherem. 1923 fand er das kurioserweise bei Real Union Irun, einem Fußballclub im kleinen Küstenort Irun im Baskenland, nahe San Sebastian.
In den Zwanzigerjahren gab es in Spanien noch keine nationalen Meisterschaften wie wir sie heute kennen. Der spanische "Meister" wurde sozusagen durch den Pokalwettbewerb Copa del Rey ermittelt, bei dem die Sieger der regionalen Ligen im K.O.-System gegeneinander antraten. Gleich in seiner ersten Trainersaison wurde Bloomer mit Irun baskischer Meister und gewann sensationell 1924 auch den Copa del Rey. Dabei schlug Real Union in der ersten Pokalrunde den andalusischen Meister FC Sevilla nach Hin- und Rückspiel 3-1. Im Halbfinale behielten die Basken gegen den FC Barcelona mit 5-1 in toto die Oberhand, um schließlich im großen Finale den damals schon großen Club Real Madrid mit 1-0 zu besiegen. Steve Bloomer blieb bis 1926 als Trainer in Irun und ist seither auch im Baskenland eine Legende.
Im Alter von 52 Jahren lief er 1926 zurück bei Derby County nochmals als Spielertrainer in der Reservemannschaft auf den Platz. Seine Karriere beendete er schließlich als Platzwart im damaligen Derby County-Stadion "Baseball Ground" und verdiente sich als Sportkolumnist einer Lokalzeitung noch etwas Geld dazu. 1938 starb er schließlich im Alter von 64 dort, wo er seine größten Erfolge feierte, in Derby, Derbyshire.